Published January 1, 2019 | Version v1
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Integration durch Bildung und Erwerbsarbeit in Zeiten von «Unsicherheit» – die Perspektive der Asylsuchenden

Description

In diesem Beitrag geht es um die psychosoziale Bedeutung der Aus- und Weiterbildung und der Erwerbstätigkeit für Migrantinnen und Migranten, die als Asylsuchende in die Schweiz gekommen sind. Ziel des Artikels ist es, den Lebensverlauf von Geflüchteten ab ihrer Ankunft im Exilland zu skizzieren, während sie auf einen Asylentscheid warten: Eine Zeit, die von Unsicherheit, der Schwierigkeit, in die Zukunft zu blicken und einer starken Einschränkung der Rechte (Bewegungsfreiheit, Arbeitserlaubnis) geprägt ist. Der Fokus liegt hier bei den Initiativen der Betroffenen in Bezug auf Bildung und Erwerbsarbeit, welche durch die ersten Erfahrungen mit den Lebensbedingungen und Kontakten zu Institutionen und zur ansässigen Bevölkerung gekennzeichnet sind. Während sich die meisten Untersuchungen auf eine Aussenansicht der Situation von Flüchtlingen und Asylsuchenden beziehen, etwa durch Behörden, Arbeitgebende, Lehrpersonen, wird die Perspektive der Betroffenen selbst dabei häufig ausgeklammert. Der vorliegende Beitrag soll diese Lücke schliessen und zu einem besseren Verständnis und einer umfassenderen Sicht des subjektiven Erlebens führen. Bei Begleitmassnahmen zu einer nachhaltigen Eingliederung in den Arbeitsmarkt gilt es, diese Perspektive zu berücksichtigen. Die erste Zeit des Lebens im Exil ist durch eine starke Betreuung der im Asylbereich tätigen Organisationen gekennzeichnet. Ein Grossteil der Geflüchteten kommt in einem Land an, in dem sich die Sprache sowie das Verhältnis zu Zeit und Raum vom Herkunftsland unterscheiden. Dazu kommt der rechtlich-soziale Status als «Asylsuchende», der in der Ankunftsgesellschaft negative Bilder hervorruft und zu Stigmatisierungserscheinungen (Goffman, 2009) im Alltag, in den Beziehungen mit den Behörden und auf dem Arbeitsmarkt (Tcholakova, 2016; Fibbi & Dahinden, 2004) führt. Gleichzeitig bleiben die Geflüchteten gegenüber dieser neuen Lebenssituation nicht passiv. Recht schnell, bereits in der  allerersten Phase, die durch Trauer, Verlustgefühle und Angst vor dem Neuen gekennzeichnet ist, beginnen sie, in den ihnen  zugänglichen Bereichen aktiv zu werden. Das kann das Lernen der Sprache sein, die Teilnahme an von den Betreuungsinstitutionen organisierten Beschäftigungsprogrammen oder Weiterbildungen, die Suche nach einer Erwerbsarbeit, das Engagement in Vereinen oder anderen freiwilligen Aktivitäten oder eine kreative Tätigkeit (Schreiben, Musik usw.). Dieses Aktivsein stellt eine Art Widerstand gegen ihre Lebenssituation dar: ein vom «Machen» und «Mit-machen» genährter Widerstand. Die Aktivitäten schaffen eine konkrete Beziehung zur sozialen und materiellen Realität (Leontiev, 1984) der Ankunftsgesellschaft. Sie werden damit richtungsbestimmend für den Prozess der Subjektwerdung während des Asylverfahrens. Der vorliegende Artikel bietet Interpretationshilfen zum Verstehen
des subjektiven Erlebens und der psychosozialen Bedeutung für die Asylsuchenden: einerseits wird die Bedeutung von Bildungs- und Arbeitstätigkeit auf der Ebene des Zeiterlebens zwischen Stillstand und Warten (auf den Asylbescheid) und Herstellung einer neuen Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgezeigt. Die Wiederaufnahme eines zeitlichen Rhythmus erlaubt es den Asylsuchenden, einen Zusammenhang mit dem Hier und Jetzt herzustellen und so die eigene Geschichte, den  bisherigen Lebensverlauf zu rekonstruieren und eine Perspektive zu eröffnen. Andererseits wird beleuchtet, wie wichtig diese Faktoren bei der Interpretation und Beurteilung von Widerstand gegenüber der negativen Rollenzuweisung als Asylsuchende sind. Sie erlauben es den Asylsuchenden, eine solche Zuschreibung zu relativieren und eine aktive Teilnahme an der Ko-Konstruktion des gemeinschaftlichen Lebens einzufordern. Nach der Erläuterung der Forschungsmethode wird im Folgenden zunächst die Situation der Asylsuchenden kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz beschrieben und auf die Zuschreibungsprozesse einer negativen Identität verwiesen. Dann wird in einer Literaturabhandlung der psychosoziale Prozess des Exils beschrieben und die Bedeutung dieser
Lebenssituation als Transitionsprozess dargelegt. Der empirische zweite Teil des Kapitels erläutert näher die Bedeutung von Aus- und Weiterbildung für das zeitliche Erleben des Exils, und für die Verbindungsarbeit von Vergangenheit und Gegenwart. Auch analysiert er den Stellenwert der Erwerbstätigkeit für die Personen im Asylbereich, vor allem im Zusammenhang mit der Frage, wie diese Aktivität dazu verhelfen kann, dem negativ behafteten Bild von Asylsuchenden in der Gesellschaft zu entgegnen. Am Ende des Kapitels werden einige Schlussfolgerungen zur beruflichen Weiterbildung in Hinsicht auf eine langfristige Integration von Personen aus dem Asylbereich gezogen.

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