Published February 2, 2023 | Version v1
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Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz - Leitfaden zu den grössten Hebeln und politischen Pfaden für ein nachhaltiges Ernährungssystem

  • 1. Universität Bern / ETH Zürich
  • 2. Agroscope
  • 3. BFH-HAFL
  • 4. Universität Bern
  • 5. Universität Basel
  • 6. ZHAW
  • 7. ESADE Business School / ETH Zürich
  • 8. Universität Bern / EAWAG
  • 9. ETH Zürich
  • 10. FiBL
  • 11. BFH
  • 12. ETH Zürich / World Food System Center
  • 13. University of Lausanne
  • 14. HEPIA – HES-SO Genève
  • 15. Universität Bern / Università della Svizzera italiana
  • 16. Agridea
  • 17. University of Neuchâtel
  • 18. FH Graubünden
  • 19. University of Bergen
  • 20. HLPE-CFS
  • 21. Unabhängig
  • 22. Lausanne University Hospital, CHUV
  • 23. Universität Zürich
  • 24. EPFL Lausanne
  • 25. Universität Bern / Wyss Academy

Description

Zusammenfassung - Chancen anpacken, Ernährung sichern: Wege in einenachhaltige Ernährungszukunft

Die Ernährungssicherheit ist gefährdet. Kriege, Pandemien, Klimawandel und das Schwinden der Biodiversität bedrohen auch die Versorgung der Schweiz. Als international vernetztes Land ist die Schweiz sowohl für die Versorgungssicherheit als auch als Wirtschaftsstandort auf weltweit funktionierende Ökosysteme und stabile Lieferketten angewiesen.

Gleichzeitig ist das heutige Ernährungssystem treibende Kraft solcher Krisen. Es überschreitet die Belastbarkeitsgrenzen der Erde, verursacht unter anderem weltweit rund 30 Prozent der Treibhausgasemissionen und ist ein entscheidender Faktor für das Schwinden der Artenvielfalt. Auch die erhöhten Pandemierisiken und wachsende soziale Unruhen haben einen grossen Einfluss darauf, wie wir derzeit Lebensmittel produzieren, verarbeiten, verteilen und konsumieren.

Um die Ernährungssicherheit zu gewährleisten, ist es deshalb aus wissenschaftlicher Sicht unumgänglich, das Ernährungssystem entlang der gesamten Wertschöpfungskette – nicht nur der Landwirtschaft im engeren Sinne – umfassend auf eine nachhaltige Entwicklung auszurichten. Den Rahmen dazu bilden die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs), welche die Schweiz gemeinsam mit sämtlichen anderen UN-Mitgliedern im Rahmen der Agenda 2030 unterzeichnet hat. Nebst ökologischen müssen dabei auch wirtschaftliche und soziale Aspekte im Auge behalten werden, beispielsweise die oft geringen Einkommen in der Land- und Ernährungswirtschaft. Dies ist besonders wichtig, um einen sozial gerechten Wandel des Ernährungssystems sicherzustellen. Die Leistung und die Bedürfnisse der verschiedenen Akteure entlang der Wertschöpfungskette des Ernährungssystems sollten angemessen wertgeschätzt und allfällige Kosten sollten gerecht verteilt und kompensiert werden. Dabei sollten die Chancen des Wandels, welche die Kosten deutlich überwiegen, im Zentrum der Debatte stehen.

Die Schweiz als Pionierin des Wandels: Transformation gemeinsam vorantreiben

Trotz ihrer überschaubaren Grösse kann die Schweiz substanziell zum globalen Wandel beitragen. Erstens hat die Schweiz pro Kopf einen überdurchschnittlich grossen Umweltfussabdruck mit starken Auswirkungen im Ausland. Zweitens sind Schweizer Politik, Wirtschaft, Finanzplatz und Wissenschaft global stark vernetzt und können entscheidende Impulse für ein nachhaltigeres Ernährungssystem setzen. Drittens hat die Schweiz die Chance, als Pionierin des Wandels nicht nur selber stark zu profitieren, sondern auch als Laboratorium und Vorbild für ähnliche Prozesse in anderen Ländern der Welt zu wirken.

Anstrengungen in Richtung eines nachhaltigen Ernährungssystems wurden und werden auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette bereits unternommen. So wurden beispielsweise in der Schweizer Landwirtschaft seit den Neunzigern die Biodiversitätsflächen erhöht und die Treibhausgasemissionen verringert. Eine Reihe grosser Schweizer Firmen hat sich verpflichtende Ziele zur Reduktion der CO2-Emissionen gesetzt. Auch im Detailhandel haben verschiedene Unternehmen Schritte in Richtung Nachhaltigkeit unternommen. Zudem hat bei den Konsumentinnen und Konsumenten das Bewusstsein für Nachhaltigkeit zugenommen.

Doch was bisher getan wird, reicht nicht aus und geschieht zu langsam. Beispielsweise verharrt in der Schweiz der Nitratanteil im Grundwasser seit 2002 auf einem international besonders hohen Niveau. Zudem verursacht unsere Ernährung pro Jahr die Rodung von grossen Waldflächen, unter anderem in besonders artenreichen Gebieten. Mit einem Anteil von fast 70 Prozent fallen zudem die meisten Treibhausgasemissionen unserer Ernährung im Ausland an. Zeitliche Dringlichkeit besteht insbesondere angesichts gefährlicher Kipppunkte in Ökosystemen, ab denen sich beispielsweise der Klimawandel und der Verlust der Arten drastisch selbst beschleunigt.

Ohne rasches Handeln kann die globale Ernährungssicherheit – auch in der Schweiz – dauerhaft nicht gewährleistet werden und die Nachhaltigkeitsziele werden deutlich verfehlt. Um diese Herausforderungen fachlich fundiert anzugehen, hat SDSN Switzerland, eine Initiative der Vereinten Nationen, das interdisziplinäre wissenschaftliche Gremium «Ernährungszukunft Schweiz» einberufen.

Das Gremium aus 43 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat den vorliegenden Leitfaden zu den grössten Hebeln und politischen Pfaden für ein nachhaltiges Ernährungssystem erarbeitet. Darin legt das Gremium dar, dass für eine nachhaltige Transformation deutlich ambitioniertere Zielsetzungen sowie konkrete Massnahmen entlang der Wertschöpfungskette notwendig sind.

Die Transformation des Ernährungssystems ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Nebst Akteuren wie der Industrie und der Landwirtschaft sowie den Konsumentinnen und Konsumenten muss in besonderem Masse der Staat eine Schlüsselrolle in der strategischen Neuausrichtung der Schweizer Ernährungssystempolitik wahrnehmen. Ziel muss aus wissenschaftlicher Sicht eine Nahrungsmittelversorgung nach agrarökologischen Prinzipien sein, welche über das ganze Ernährungssystem wirtschaftliche mit ökologischen und sozialen Interessen verbindet. Je rascher diese Neuausrichtung gelingt, desto besser stehen die Chancen, vom Wandel zu profitieren, Krisen zu verhindern und Kosten zu minimieren.

Leitbild und messbare Ziele für ein nachhaltiges Ernährungssystem festlegen

Zunächst haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Kapitel 2 dieses Berichts ein Leitbild für ein nachhaltiges Ernährungssystem entwickelt und dieses mit elf prioritären Zielindikatoren zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele unterlegt. Dazu gehören die Anpassung der Schweizer Ernährung im Einklang mit der Planetary Health Diet, die Reduktion der Stickstoff- und Phosphorverluste sowie der ökotoxischen Auswirkungen von Pestiziden, die nachhaltige Nutzung der landwirtschaftlich bewirtschafteten Böden in der Schweiz sowie die Reduktion der Abholzung, der Biodiversitätsverluste, der Treibhausgasemissionen, der Lebensmittelabfälle und des ernährungsbedingten Wasserfussabdrucks. Diese ökologischen Zielindikatoren werden durch messbare soziale Ziele wie die Reduktion von psychosozialen und körperlichen Gesundheitsrisiken in der Landwirtschaft sowie die Gewährleistung existenzsichernder Einkommen und die Einhaltung der ILO-Standards zur Kinderarbeit entlang der Lieferkette ergänzt. Der Vergleich dieser elf Indikatoren zum Status quo zeigt, dass es deutlicher Anstrengungen bedarf, um das Schweizer Ernährungssystem bis 2030 im Einklang mit den SDGs zu transformieren.

Strategische Ernährungssystempolitik kann positive Kipppunkte auslösen

Aufbauend auf dieser Erkenntnis skizziert das wissenschaftliche Gremium in Kapitel 3 einen konkreten politischen Handlungspfad, wie der Schweizer Staat diesen Wandel gemeinsam mit den anderen Akteuren im System beschleunigen kann. Entscheidend für eine effektive, kosteneffiziente und umsetzbare Ernährungssystempolitik ist dabei nicht nur die Auswahl der Massnahmen, sondern auch ihre zeitliche Abfolge und ihr strategisches Ineinandergreifen. Gezielt können positive Kipppunkte angesteuert werden, durch die positive Beschleunigungsprozesse in Gang gesetzt werden. Aus diesem Grund schlägt das wissenschaftliche Gremium nicht nur einzelne Massnahmen vor, sondern priorisiert diese auch nach Wirkung, Dringlichkeit und Machbarkeit, bündelt sie in vier Massnahmenpakete und setzt sie in eine zeitliche Abfolge bis 2030. Das Grundprinzip ist hierbei zunächst das gezielte Fördern und dann das schrittweise verstärkte Fordern. Ein besonderer Fokus des vorgeschlagenen strategischen politischen Handlungspfads liegt auf den Chancen des Wandels.

Massnahmenpaket I: Einführung eines Transformationsfonds

In einer ersten Phase empfiehlt das wissenschaftliche Gremium bis 2025 den Aufbau eines umfassenden Transformationsfonds. Durch diesen Fonds sollten zeitnah informations- und bildungsorientierte Massnahmen sowie positive Anreizinstrumente finanziert werden. Konkret könnten dies beispielsweise Aus- und Weiterbildungsprogramme für relevante Berufe der gesamten Wertschöpfungskette, aber auch Förderprogramme für Junglandwirtinnen und -landwirte zur Betriebsumstellung sein. Gezielte Förderung von technologischen Innovationen, aber auch Umstellungsprämien für landwirtschaftliche Betriebe sowie die Förderung nachhaltiger Angebote in Kantinen und Restaurants sind zentrale Bestandteile des Fonds. Ein strategisch ausgerichteter Transformationsfonds in Phase eins trägt dazu bei, neue Wertschöpfungsmöglichkeiten zu generieren, gesellschaftliche Normen zu wandeln und die Akzeptanz weitergehender Massnahmen in späteren Phasen zu erhöhen. Der Fonds könnte zu Beginn aus zusätzlichen Haushaltsmitteln des Bundes kombiniert mit privaten Mitteln gespiesen werden und in den späteren Phasen durch Lenkungsabgaben und die Umwidmung bestehender Mittel erweitert werden. Die genaue Ausgestaltung des Fonds kann durch international erfolgreiche Beispiele, z. B. aus Dänemark, inspiriert werden.

Massnahmenpaket II: Regulatorische Massnahmen und Lenkungsabgaben

In einer zweiten Phase müssten ab 2025 zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele zunehmend regulatorische Massnahmen und Lenkungsabgaben zum Tragen kommen. Sinnvoll aus wissenschaftlicher Sicht wären etwa kostenwahrheitsfördernde Lenkungsabgaben, Anpassungen der Zölle sowie nationale Richtlinien nach Nachhaltigkeitskriterien für die öffentliche Beschaffung und Kantinen öffentlicher Betriebe. Auch Branchenvereinbarungen zur Einführung von wissensbasierten Reduktionszielen sowie verstärkte Sorgfaltspflichten von Konzernen gemäss internationalen Richtlinien sollten in dieser Phase verbindlich umgesetzt werden.

Massnahmenpaket III: Agrarpolitische Massnahmen und Unterstützung für den ländlichen Raum

Phase drei (ab ca. 2026) konzentriert sich auf agrarpolitische Massnahmen und Unterstützung für den ländlichen Raum. Denkbar sind zum Beispiel eine Anpassung bei den Direktzahlungen, Marktstützungsmassnahmen und Investitionsbeihilfen sowie eine negative Einkommenssteuer in der Landwirtschaft. Auch die Handelsmassnahmen sollten spätestens in dieser Phase systematisch auf nachhaltige Ernährungssysteme ausgerichtet sein.

Massnahmenpaket IV: Tiefergreifende regulatorische Massnahmen

Für die vierte Phase (ab ca. 2030) können Massnahmen eingeführt werden, die bisher noch weniger Akzeptanz geniessen. Dank fördernder und kompensatorischer Massnahmen im Rahmen des Transformationsfonds sowie neuer Wertschöpfungsmöglichkeiten werden bis 2030 schrittweise auch tiefergreifende regulatorische Massnahmen und höhere Lenkungsabgaben realistischer.

Gesamtgesellschaftlichen Verhandlungsprozess für eine Ernährungssystempolitik beschleunigen

Eine derartig umfassende Neuausrichtung der Schweizer Ernährungssystempolitik im Sinne der Agenda 2030 erfordert einen kompromissorientierten Aushandlungsprozess für das gesamte Ernährungssystem. Um diesen Prozess möglichst erfolgreich zu gestalten und Polarisierung zu minimieren, müssen Bund, Kantone und Gemeinden eine Führungsrolle übernehmen. Eine wirkungsvolle Ernährungssystempolitik setzt deshalb eine integrierte Ernährungssystem-Gouvernanz voraus. Wie diese aussehen könnte, wird in Kapitel 4 dieses Leitfadens aufgezeigt.

Die zentrale Empfehlung des wissenschaftlichen Gremiums zur Gouvernanz ist die Einrichtung einer Zukunftskommission Ernährungssystem. Diese bezweckt einen beschleunigten, vertraulichen und multilateralen Verhandlungsprozess zwischen zentralen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette. Eine ausbalancierte Vertretung zentraler Interessenvertretungen, eine neutrale Moderation sowie eine wissenschaftliche Begleitung sind zu gewährleisten. Die nötigen raschen Veränderungen bedingen zudem regelmässige Miteinbezugsverfahren für Bürgerinnen und Bürger – nicht als Ersatzparlamente, sondern als Beratungsgremien. Das wissenschaftliche Gremium macht auch den Vorschlag, mittelfristig die gesetzliche Grundlage im Sinne eines umfassenden Ernährungssystemgesetzes zu überdenken und eine verbesserte Integration der beteiligten Ämter für diese Querschnittsaufgabe zu ermöglichen.

Zusammenfassend hält das von SDSN Switzerland einberufene wissenschaftliche Gremium «Ernährungszukunft Schweiz» fest, dass dringend neue Wege hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem eingeschlagen werden müssen, um die Nachhaltigkeitsziele und die Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Der notwendige Wandlungsprozess bietet jedoch grosse Chancen für die Schweiz und sollte deshalb rasch strategisch und gemeinschaftlich vorangetrieben werden.

Notes

Ohne rasches Handeln kann die globale Ernährungssicherheit – auch in der Schweiz – dauerhaft nicht gewährleistet werden und die Nachhaltigkeitsziele werden deutlich verfehlt. Um diese Herausforderungen fachlich fundiert anzugehen, hat SDSN Schweiz, der Schweizer Ableger einer Initiative der Vereinten Nationen, das interdisziplinäre wissenschaftliche Gremium Ernährungszukunft Schweiz einberufen. Das Gremium aus 42 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat den vorliegenden Leitfaden zu den grössten Hebeln und politischen Pfaden für ein nachhaltiges Ernährungssystem erarbeitet. Mehr Informationen gibt es unter www.sdsn.ch

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Fesenfeld_etal_SDSN_Leitfaden_Ernährungszukunft.pdf

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Is supplemented by
Technical note: 10.5281/zenodo.7543736 (DOI)