Published September 5, 2022 | Version v1
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Erinnerung partizipativ gestalten. Zivilgesellschaftliche Teilhabe an der Gestaltung öffentlicher Erinnerungskultur in der Schweiz

  • 1. Pädagogische Hochschule Luzern

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Materielle Erinnerungskultur ist eine wichtige Ressource demokratischer Legitimität. Denkmäler, Gebäude, Installationen und andere Darstellungen im öffentlichen Raum machen historische Erinnerung sicht- und erfahrbar und formen das politisch-kulturelle Selbstverständnis von heutigen Gesellschaften mit. Nur: So divers demokratische Gesellschaften und ihre Mitglieder sind, so vielfältig sind auch ihre Geschichts- und Gedenkkonstruktionen. Deswegen sind Erinnerungskulturen in Demokratien häufig umstritten und müssen immer wieder neu verhandelt werden.

Auch in der Schweiz haben sich in den letzten Jahren die Debatten über Erinnerungskulturen und ihre Darstellungen im öffentlichen Raum intensiviert. Es steht die Forderung im Raum, breite Bevölkerungsteile am Entstehungs- und Veränderungsprozess von Denkmälern partizipieren zu lassen. Auf diese Weise sollen etwa postkoloniale, migrantische, weibliche oder queere Gedächtnisperspektiven Eingang in die hiesige Erinnerungskultur finden.

In der Schweiz ist «Kulturelle Teilhabe» Bestandteil der Kulturbotschaft 2021–2024 und bildet eine der drei strategischen Handlungsachsen der Kulturpolitik des Bundes. Darüber hinaus hat das Thema Eingang in die Kulturleitbilder vieler Kantone, Gemeinden und lokaler Kulturinstitutionen gefunden. Die kulturelle Teilhabe soll die aktive Mitgestaltung des kulturellen Lebens fördern, zur kulturellen Vielfalt in der Schweiz beitragen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

Die vorliegende Studie «Erinnerung partizipativ gestalten. Zivilgesellschaftliche Teilhabe an der Gestaltung öffentlicher Erinnerungskultur in der Schweiz» orientiert sich an folgenden Leitfragen:

  • Welche Aktionen und Projekte gibt es derzeit im Zusammenhang mit der Planung und Entstehung materieller Erinnerungskultur, insbesondere von Denkmälern? 
  • Mittels welcher diskursiven und performativen Praktiken partizipieren zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Anspruchsgruppen an diesem Prozess? 
  • Wer sind sie und welche Partizipationserwartungen haben sie? 
  • Welche Voraussetzungen sind unabdingbar für eine erfolgreiche Partizipation an erinnerungskulturellen Praktiken in demokratischen Gesellschaften? 

Die Studie untersucht diese Fragen anhand zweier Zugänge. Zunächst werden 14 Fallbeispiele aus der Schweiz, Deutschland und den USA geschildert, die den Wandel eines erinnerungskulturellen Diskurses und dessen materielle Repräsentationen im öffentlichen Raum angestrebt haben oder dies gegenwärtig tun. Die Beispiele zeigen verschiedene Praktiken, mit Hilfe derer zivilgesellschaftliche Akteurinnen in demokratischen Gesellschaften Teilhabe an Erinnerungskultur erwirken können. Dazu gehören insbesondere das Lancieren öffentlicher Abstimmungsverfahren, die Entwicklung ganzheitlicher partizipativer Verfahrensprozesse sowie die Gründung diverser Formen breiter Bürgerbeteiligungen.

In einem zweiten Schritt werden Leitfadeninterviews mit Verantwortlichen von sieben Aktionen und Projekte präsentiert. Sie wurden unter anderem gefragt, welche Erwartungen an eine partizipativ gestaltete Erinnerungskultur bestehen und welche behördlichen und politischen Hürden zu überwinden waren beziehungsweise welche Grenzen den eigenen Projekten durch politisch-rechtliche Rahmenbedingungen gesetzt wurden.

Die Auswertungen der qualitativen Daten zeigen, welche Handlungsoptionen sich Anspruchsgruppen bei der Entwicklung und Umsetzung erinnerungskultureller Vorhaben potenziell bieten: Die Dimension zivilgesellschaftlicher Mitwirkung reicht dabei von kritischer Intervention bis hin zu direkter Einflussnahme auf einen erinnerungskulturellen Gegenstand im öffentlichen Raum. Das Thema Partizipation im Bereich materieller Erinnerungskultur wird also sehr divers gedacht, ausgelegt und praktiziert. Der Grad an Partizipation in einer Gesellschaft hängt dabei auch davon ab, inwiefern diese auf politischer oder sozialer Ebene erwünscht ist und gelebt wird.

Kulturelle Teilhabe benötigt lebendige Netzwerke und engagierte Akteure, die sich in und für Gemeinschaften und deren Anliegen einsetzen und diskursiv Veränderungen erwirken wollen. Eine Herausforderung besteht darin, nicht in Kontinuitäten, sondern in der Logik des Wandels zu denken. Dafür braucht es Diskussion und Dialog genauso wie Partizipation und Integration diverser gesellschaftlicher Akteure. Nur so kann ein zeitgemässes Verständnis von Geschichte und Erinnerungskultur in demokratischen Gesellschaften entstehen und wachsen.

Welche konkreten Handlungsanleitungen ergeben sich auf Basis der Studie für zivilgesellschaftliche Partizipationsprojekte? Die Autorin und die Autoren formulieren am Ende der Studie zehn Vorschläge für eine zivilgesellschaftliche Teilhabe, die sich primär an zivilgesellschaftliche Personen richten. Für Fachpersonen und Entscheidungsträgerinnen aus Politik und Verwaltung bieten die Vorschläge eine Orientierung, wie partizipative Projekte angestossen werden können.

Notes

Cite as: Schillig, Anne, Gian Knoll und Sebastián Lingenhöle (2022): Erinnerung partizipativ gestalten. Zivilgesellschaftliche Teilhabe an der Gestaltung öffentlicher Erinnerungskultur in der Schweiz. Bericht im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Swiss Academies Reports 17,1). https://doi.org/10.5281/zenodo.6539433

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