Published March 1, 2021 | Version 1.0
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Validierung eines Fragebogens zur Erfassung des Rehabilitations- und Präventionsbedarfs von Über-45-Jährigen (Ü45-Screening II). Abschlussbericht

  • 1. Charité - Universitätsmedizin Berlin

Description

Hintergrund und Ziele

Das Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexirentengesetz) sieht vor, dass für Versicherte ab 45 Jahren die „Einführung einer freiwilligen, individuellen, berufsbezogenen Gesundheitsfürsorge für Versicherte […] trägerübergreifend in Modellprojekten erprobt wird.“ Bislang fehlen allerdings validierte dimensionsübergreifende Instrumente zur Feststellung eines Präventions- oder Rehabilitationsbedarfs. Mit dem von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) entwickelten multidimensionalen Befragungsinstrument „Ü45-Screening“ soll diese Lücke geschlossen werden.

Es wurden folgende Ziele durch die Studie verfolgt:

  • Verteilungseigenschaften des Ü45-Screenings bei unterschiedlichen Versichertengruppen (ohne Leistungsbezug in den vergangenen vier Jahren; Antrag auf medizinische Rehabilitation dem Grunde nach abgelehnt; Antrag auf medizinische Rehabilitation bewilligt; Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt)
  • Verteilungseigenschaften des Ü45-Screenings bei unterschiedlichen Rentenversicherungsträgern (DRV Bund, DRV Berlin-Brandenburg, DRV Mitteldeutschland)
  • Bestimmung weiterer psychometrischer Eigenschaften des Ü45-Screenings auf Item- und Dimensionsebene (u.a. Lage- und Streuungsmaße, Homogenität, Reliabilität, faktorielle und Kriteriumsvalidität)
  • Analyse des Zusammenhangs von Dimensionen des Ü45-Screenings und soziodemografischen sowie berufsbezogenen Angaben

 

Methoden

Es wurde eine Querschnittsstudie durchgeführt. Hierfür wurden insgesamt N=15.000 Versicherte der DRV Bund, DRV Berlin-Brandenburg und DRV Mitteldeutschland zwischen 45 und 60 Jahren gezogen und postalisch durch die beteiligten Rentenversicherungsträger kontaktiert. Die Stichproben unterteilten sich in (1.) Versicherte ohne Leistung in den letzten 4 Jahren (N=4.000), (2.) Versicherte, die in der Vorwoche einen Antrag auf medizinische Rehabilitation gestellt haben (N=10.000) und (3.) Versicherte mit Bewilligung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (N=1.000, nur DRV Bund). Anhand von Routinedaten ließ sich die zweite Gruppe a posteriori in zwei Untergruppen mit bewilligtem bzw. abgelehntem Rehabilitationsantrag aufteilen (2a/2b).

Neben dem Ü45-Screening mit 19 Items auf den 5 Dimensionen Erwerbsfähigkeit, psychische Befindlichkeit, Funktionsfähigkeit, Bewältigungsverhalten sowie Sport und Bewegung wurden auf Basis einer Literatur- und Assessmentrecherche Validierungsinstrumente ausgewählt und zusätzlich soziodemografische sowie berufsbezogene Merkmale im Fragebogen integriert.

Nach dem Rücklauf der ausgefüllten Fragebogen an der Charité wurden diese automatisiert in Datenbanken eingelesen und geprüft. In einem zweiten Schritt wurde bei vorliegendem Einverständnis die Fragebogendaten mit ausgewählten Routinedaten der DRV verknüpft.

Es erfolgten deskriptive Analysen zu psychometrischen Eigenschaften, zu Verteilungseigenschaften stratifiziert nach Versichertengruppe und nach Rentenversicherungsträger sowie zum Zusammenhang zwischen dem Ü45-Screening und soziodemografischen bzw. berufsbezogenen Angaben mithilfe des Programms IBM SPSS in der Version 26.0. Für die Bestimmung der faktoriellen Validität mithilfe von konfirmatorischen Faktorenanalysen wurde das Programmpaket AMOS in der Version 26 eingesetzt.

Ein Ethikvotum und eine datenschutzrechtliche Würdigung wurden von den zuständigen Stellen eingeholt. Ein schriftliches informiertes Einverständnis der Studienteilnehmenden liegt vor. Die Studie wurde im Deutschen Register Klinischer Studien prospektiv registriert (DRKS00014979).

 

Ergebnisse

Der Rücklauf unter Berücksichtigung der Einwilligung in die Studienteilnahme und in die Verknüpfung mit Routinedaten lag bei 38,0 %. Von diesen 5.697 Personen wurden 453 Personen aus den Analysen ausgeschlossen, da entweder keine Routinedaten übermittelt wurden oder die Differenzierung in Versicherte mit Bewilligung bzw. Ablehnung ihres Antrages auf medizinische Rehabilitation nicht erfolgen konnte. Damit wurden in die Analysen 5.244 Personen eingeschlossen (35,0 % der angeschriebenen Versicherten).

Das Antwortverhalten der verschiedenen untersuchten Versichertengruppen unterschied sich erheblich. Versicherte ohne Leistungsbezug wiesen in allen Dimensionen die geringsten Beeinträchtigungen auf, während diese für Antragsteller:innen auf medizinische Rehabilitation teils deutlich höher lagen. Noch gravierender waren Beeinträchtigungen bei Versicherten mit Bewilligung einer LTA. Hingegen waren kaum nennenswerte Unterschiede zwischen Versicherten mit Bewilligung und mit Ablehnung ihres Reha-Antrages zu beobachten. Am meisten diskriminierte die Dimension A Erwerbsfähigkeit, auch bei den Dimensionen B bis D waren erhebliche Unterschiede zwischen den Versichertengruppen zu verzeichnen. Auf der Dimension E Sport und Bewegung unterschied sich das Antwortverhalten weniger deutlich.

Die Unterschiede in der Rentenversicherungsträger-vergleichenden Analyse fielen erheblich geringer aus als zwischen den betrachteten Versichertengruppen. Tendenziell waren Versicherte der Regionalträger etwas stärker beeinträchtigt als DRV Bund-Versicherte, allerdings zeigte sich kein einheitliches Bild. Auf Ebene der Handlungsempfehlungen gemäß Ü45-Screening wurden mehrere Varianten dargestellt. Die Unterschiede in den Empfehlungen zwischen den Versichertengruppen waren wiederum erheblich, während sie zwischen den Rentenversicherungsträgern geringer ausfielen.

Die weiteren psychometrischen Analysen zeigten im Allgemeinen mit Ausnahme der Dimension E gute oder befriedigende Kennwerte. Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Dimensionen des Ü45-Screenings und soziodemografischen bzw. berufsbezogenen Angaben ergaben, dass Erwerbslosigkeit, höheres Alter, niedrigerer subjektiver sozialer Status, Migrationserfahrung, Schichtarbeit und höhere Arbeitsbelastungen gemäß Berufstätigkeit mit höheren Beeinträchtigungen im Ü45-Screening assoziiert waren. Geschlechtsspezifische Unterschiede waren hingegen kaum zu verzeichnen.

 

Diskussion und Schlussfolgerungen

Das Ü45-Screening wurde an unterschiedlichen Stichproben mehrerer Rentenversicherungsträger mithilfe von Validierungsinstrumenten und ergänzender DRV-Routinedaten in Bezug auf Verteilungs- und weitere psychometrischer Eigenschaften geprüft. Demnach kann das Ü45-Screening zwischen Versichertengruppen je nach Beeinträchtigungsniveau differenzieren, wobei keine wesentlichen Unterschiede zwischen Versicherten mit abgelehntem und mit bewilligtem Antrag auf medizinische Rehabilitation festgestellt wurden. Die Differenzierungsfähigkeit fällt besonders stark in den Dimensionen Erwerbsfähigkeit, psychische Befindlichkeit und Funktionsfähigkeit aus, welche für die Ermittlung von Handlungsempfehlungen eine entscheidende Rolle spielen.

Die Praxistauglichkeit, Akzeptanz unter Versicherten und beteiligten Akteuren sowie die Wirksamkeit des Ü45-Screenings unter Alltagsbedingungen sollte in Modellprojekten überprüft werden. Hierzu haben mehrere Rentenversicherungsträger in Kooperation mit wissenschaftlichen Einrichtungen bereits Studien initiiert, welche das Ü45-Screening in verschiedenen Settings bei unterschiedlichen Zielgruppen einsetzen.

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