Published October 14, 2020 | Version v1
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Multikopter im Rettungsdienst - Machbarkeitsstudie zum Einsatzpotenzial von Multikoptern als Notarztzubringer

Description

Die vorliegende Machbarkeitsstudie untersucht die Einsatzmöglichkeiten von bemannten Multikoptern im Rettungsdienst und beantwortet die Frage, ob der Einsatz von Multikoptern einen Vorteil gegenüber etablierten Systemen bieten kann. Multikopter sind eine gänzlich neue Art von Luftfahrzeugen. Sie sind elektrisch angetrieben, mehrmotorig, senkrechtstartend und weisen einen hohen Grad an Automatisierung auf. Multikopter wurden in erster Linie für einen Einsatz als Flugtaxi im zivilen Bereich entwickelt. Der Einsatz im Rettungsdienst stellt zusätzliche bzw. abweichende Anforderungen an einen Multikopter. Die Untersuchung der technischen Voraussetzungen bildet jedoch nur einen Teil des Studienfokus. Aspekte der bedarfsanalytischen, operationellen, rechtlichen, politisch-gesellschaftlichen sowie der wirtschaftlichen Machbarkeit sind weitere zentrale Elemente der Studie. Die Ergebnisse sollen als Entscheidungsgrundlage für weiterführende Praxistests und Versuchsszenarien mit Multikoptern in der Luftrettung dienen. Eine Einführung von neuen Luftfahrzeugen ist für die ADAC Luftrettung mit ihrer 50-jährigen Historie keine Neuheit. Stetige Neuentwicklungen der Hersteller führten die ADAC Luftrettung immer wieder vor die Herausforderung, neue marktreife Hubschraubermodelle wie z. B. die BK117, MD900, EC135 und BK117 D2 in Dienst zu stellen und zu betreiben. Auf dieser Erfahrung kann grundlegend aufgebaut werden, auch wenn es sich bei Multikoptern im Vergleich zu Hubschraubern um eine differenzierte Technik handelt.

Ausgangslage. Für ein möglichst gutes Outcome eines Notfallpatienten ist das frühzeitige Eintreffen von qualifizierten Rettungskräften essenziell. Statistische Erhebungen zeigen jedoch, dass sich die Notarzt-Eintreffzeit seit 20 Jahren um fast 40 % verlängert und somit verschlechtert hat. Wesentlicher Grund hierfür ist ein stetig steigendes Einsatzaufkommen bei gleichzeitig zunehmenden Bindungszeiten. Diese lassen sich vor allem durch längere Transportstrecken infolge von Zentrenbildung der Kliniken begründen. Damit einhergehend sinkt die Verfügbarkeit der notärztlichen Einsatzkräfte. Neben der höheren Bindung vorhandener Rettungsmittel verschlechtert sich die Situation zusätzlich durch einen sich zuspitzenden Mangel an qualifizierten Notärzten. Die Rettungsdienstträger stehen vermehrt vor der Herausforderung, ihre Notarztstandorte ausreichend personell besetzen zu können. Lösungsstrategien hierfür sind bereits etabliert bzw. befinden sich im Stadium der Erprobung. So soll die Einführung des Berufsbildes des Notfallsanitäters zu einer Entlastung der notärztlichen Kapazitäten führen; die Einführung eines Systems zur telenotärztlichen Konsultation soll ebenfalls zur Sicherung des Systems beitragen. Die Mangelsituation kann jedoch allein durch diese Maßnahmen nicht beseitigt werden. Eine weitere Möglichkeit kann und muss in der Verbesserung der Logistik liegen. Nicht in jedem Fall kann ein Notfallsanitäter oder ein Telenotarzt den Notarzt an der Einsatzstelle ersetzen. Es müssen daher Lösungen gefunden und etabliert werden, um eine geringere Anzahl an Notärzten für größere Versorgungsbereiche verfügbar zu machen. Eine solche Lösungsstrategie ist der Einsatz von Multikoptern im Rettungsdienst. Von Seiten der Bevölkerung ist hierfür eine große Befürwortung zu erwarten. Nach einer repräsentativen Umfrage sprechen sich mehr als 65 % der Befragten für einen Multikoptereinsatz im Rahmen einer notfallmedizinischen Anwendung aus.

Ziel und Abgrenzung der Studie. Zentraler Fokus der Studie ist die Untersuchung der Einführbarkeit von Multikoptern im Rettungsdienst. Hierfür orientiert sich die Studie an bestehenden und zu erwartenden technischen Entwicklungen bei Multikoptern, die auf eine Marktreife in einem Zeithorizont von zwei bis vier Jahren abzielen. In diesem Zeithorizont werden Multikopter mit hoher Nutzlast noch keine ausreichende Marktreife erreichen können. Daher wird eine (Patienten-)Transportkomponente in der Studie nicht betrachtet, sondern ausschließlich eine taktische Notarztzubringung untersucht, die auf eine Ausweitung der Notarztversorgungsbereiche fokussiert ist. Des Weiteren sollen auch vollautonome Einsatzmöglichkeiten des Luftfahrzeuges nicht betrachtet werden. Autonome Flüge sind im Rahmen eines Flugtaxi-Betriebs in Zukunft zwar zu erwarten – in der Luftrettung jedoch aufgrund hoher Anforderungen an fliegerisches Können in unbekanntem Terrain bzw. Landen an unerkundeten Landestellen als mittelfristig nicht realistisch zu bewerten.

Bedarfsanalyse. Zur Analyse und Bewertung wesentlicher einsatztaktischer, technischer und konzeptioneller Anforderungen sind vom Projektpartner INM Bedarfsanalysen auf Basis verschiedener Simulationen durchgeführt worden. Diese ergaben ein valides Anforderungsprofil an ein mögliches Multikopterkonzept und zudem Kennwerte für erforderliche Geschwindigkeiten und Reichweiten. In den Simulationen wurden zunächst im Rahmen einer Makroperspektive die Länder Bayern und Rheinland-Pfalz bedarfsanalytisch untersucht. Darauf aufbauend erfolgte im weiteren Schritt eine regionale Analyse (Mikrosicht) für die Modellregionen Ansbach (Bayern) und Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz). Für beide Simulationsperspektiven wurden jeweils Realeinsatzdaten zugrunde gelegt. Aus den Simulationen lassen sich im Wesentlichen zwei Ergebnisse ableiten: Zum einen kann der Einsatz von Multikoptern im Rettungsdienst zur Systemverbesserung und zur Lösung bestehender Herausforderungen beitragen. Die Vergrößerung von Vorhaltebereichen führt dazu, dass notärztliche Vor-Ort-Expertise weiterhin und bei gleichbleibender Versorgungssicherheit verfügbar bleiben kann, auch wenn sich die Situation des Notärztemangels weiter verschlechtern sollte. Zum anderen leiten sich aus den Simulationen wesentliche planerische und technische Kennwerte ab: Der Einsatzradius eines Multikopters als systemrelevantes Rettungsmittel sollte idealerweise bei 25 bis 30 km liegen. Aus diesem Einsatzradius ergibt sich eine optimale Einsatzgeschwindigkeit (Fluggeschwindigkeit) des Multikopters von etwa 150 bis 180 km/h und eine Mindestreichweite von etwa 150 km. Die Analyse der Mikrosicht in den Modellregionen ergab zudem, dass sich bereits mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h (über Grund) und einer Reichweite von 50 km deutliche Verbesserungen der Versorgungssituation zeigen können.

Technische Anforderungen. Die technische Machbarkeit wurde anhand des VoloCity des Projektpartners Volocopter untersucht, da sich dieser Multikopter durch seine Einfachheit im Design auszeichnet und er vor allem eine frühzeitige Marktreife erwarten lässt. Mit 18 festverbauten Propellern weist der VoloCity eine besonders hohe Ausfallsicherheit auf. Für die Machbarkeitsstudie lieferte der VoloCity die nötigen Kennwerte, um das Konzept aus technischer Sicht bewerten zu können. Im Gegensatz zum Flugtaxi bestehen an einen Multikopter als Luftrettungsmittel zusätzliche Anforderungen, die aus dem besonderen operationellen Umfeld der Luftrettung resultieren. Dieses schließt unter anderem eine Operabilität bei Nacht und bei besonderen Wetterbedingungen mit ein. Aus technischer Sicht müssen hierzu die entsprechenden Systeme (z. B. NVIS) vorgesehen werden oder zukünftig automatische bzw. assistierende Systeme den Piloten bei Nacht bzw. schlechter Sicht unterstützen (z. B. Lidar, Radar). Nach der Produktspezifikation des VoloCity beläuft sich dessen Reichweite auf 35 km. Dieser Wert beruht auf dem VoloCity als einem „Minimum Viable Product“, mit welchem durchaus ein erster Probebetrieb und folgende Pilotphasen möglich sind. Für einen flächendeckenden Betrieb von Multikoptern in der Luftrettung werden Modellvarianten mit alternativen bzw. verbesserten Energiespeicherungs- bzw. Energieumwandlungssystemen sowie höheren Nutzlasten und Reisegeschwindigkeiten benötigt.

Operationelle Anforderungen. Aus operationeller Sicht stehen die Verfügbarkeit und Sicherheit des Rettungsmittels im Fokus. Einsatzmittel im Rettungsdienst müssen eine höchstmögliche Verfügbarkeit aufweisen, da ein Notfallpatient auf das sichere und schnelle Eintreffen des Notarztes angewiesen ist und dessen Überleben bzw. das Patienten-Outcome bei entsprechendem Notfallbild davon abhängen kann. Es ist daher erforderlich, dass der Multikopter im 24h-Dienst sowie bei Schlechtwetter operieren kann und auch technische Ausfälle auf ein absolutes Minimum reduzierbar sein müssen. Auch bestehen spezielle Anforderungen an die medizinische Ausstattung. Durch den Multikopter wird der Notarzt häufig frühzeitig (oder sogar als erstes Rettungsmittel) an der Notfallstelle ankommen. Dies erfordert eine besondere medizinische Ausstattung, die im Vergleich zum Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) beim Multikopter – aufgrund einer deutlich geringeren Nutzlast – gewichtsoptimiert sein muss. Da nur zwei Besatzungsmitglieder an Bord sein sollen, muss nach aktuellen Vorgaben der Notarzt die fliegerischen Aufgaben eines TC HEMS übernehmen. Aktuell verfügt der Fahrer eines NEF über eine notfallmedizinische Ausbildung. Analog müsste beim Multikopterbetrieb der Pilot, welcher über die entsprechende (spezielle) Lizenz, Flugerfahrung und Musterberechtigung verfügen sollte, zusätzlich eine notfallmedizinische Zusatzausbildung durchlaufen. Zur Sicherstellung einer jederzeitigen Verfügbarkeit auch bei widrigsten Wetter- bzw. Sichtbedingungen sollte an jedem Standort ein Fahrzeug als Rückfallebene vorgehalten werden.

Regulatorische Anforderungen. Auf europäischer Ebene bestehen bereits erste Vorschriften für die Zulassung von Multikoptern, und Vorschriften für deren Betrieb befinden sich in Entwicklung. Dabei müssen bereits die spezifischen Erfordernisse des Luftrettungsdienstes Berücksichtigung finden, um eine regulatorische Blockade dieser Anwendung zu vermeiden. Auf nationaler Ebene sind für den Luftrettungsdienst sichere Rechtsgrundlagen der Landung essenziell. Sowohl die Rechtsgrundlagen der Landung auf Landestellen im öffentlichen Interesse („Public Interest Site“, PIS) als auch der Genehmigungsumfang von Hubschraubersonderlandeplätzen müssten nachgebessert werden, um den Einsatz von Multikoptern im Rettungsdienst zu ermöglichen. Die grundsätzliche Einordnung der Multikopter in die Luftfahrzeugklassifikation bedarf der Klärung. Nach dem Rettungsdienstrecht der Länder sind insbesondere die Qualifikationsanforderungen an die Besatzung zu prüfen, da in der Regel der Pilot eine zusätzliche, umfangreiche Ausbildung zum Notfallsanitäter nicht zu leisten vermag, allerdings in Begleitung eines umfassend ausgebildeten Notfallmediziners ggf. auch gar nicht benötigt. Die bundeseinheitliche Durchsetzung dieser neuen luftrechtlichen Regularien erfordert eine ausreichend ausgestattete, performante Luftfahrtverwaltung sowie eine gute Koordination zwischen Bund und Ländern.

Politische und gesellschaftliche Herausforderungen. Multikopter im Rettungsdienst können auf eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung hoffen. Anwohner von Landeplätzen sind von Lärmbelästigungen betroffen, die jedoch bei Multikoptern deutlich geringer sind als solche, die von Hubschraubern ausgehen. Dem Brandschutz an Landeplätzen und Stationen ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die hohen Anforderungen des Artenschutzes könnten zu besonderen Herausforderungen führen, da innerhalb eines Rettungsdienstbereichs lediglich eingeschränkte Stationierungsmöglichkeiten vorhanden sind und die Wirkungen von Multikoptern auf die Arten nach bisheriger Einschätzung mit den Wirkungen von Hubschraubern vergleichbar sein könnten, was jedoch weiterer Untersuchung bedarf. Ebenso besteht hinsichtlich der Lärmwirkungen von Multikoptern auf den Menschen Abklärungsbedarf. Die Einführung dieser neuen Technologie bedarf eines politischen Änderungsmanagements, welches das Vertrauen in diese noch unbekannten Luftfahrzeuge durch transparente und aktive Kommunikation fördert.

Wirtschaftlichkeit. Werden Multikopter mittelfristig in das System der Notfallrettung in Deutschland integriert, so sind die Kosten im Wesentlichen von den gesetzlichen Kranken- und Unfallkassen zu tragen. Multikopter müssen daher wirtschaftlich betreibbar sein. Dies setzt voraus, dass die Systemgesamtkosten im Idealfall durch die Etablierung eines solchen neuen Rettungsmittels nicht steigen. Die projizierten Gesamtkosten einer Multikopterstation im 24h-Betrieb belaufen sich auf Basis eines heutigen durchschnittlichen NEF-Einsatzaufkommens auf rund 1,35 Mio. € pro Jahr. Diese Kosten sind im Vergleich zum Betrieb einer Rettungshubschrauberstation deutlich günstiger, im Vergleich zum Betrieb einer NEF-Wache aber teurer. Setzt man jedoch voraus, dass zukünftig die Versorgungsbereiche von Multikoptern im Vergleich zu NEFs größer sein werden, relativiert sich der Vergleich zum aktuell bodengebundenen System. Ein kosteneffizienter Betrieb erscheint daher möglich.

Files

Multikopter_im_Rettungsdienst_-_Machbarkeitsstudie_-_ADAC_Luftrettung.pdf