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Inzwischen haben computergestützte Informationstechnologien als Teil der digitalen Transformation einen festen Platz in allen Bereichen der geisteswissenschaftlichen Forschung und Lehre gefunden, oftmals unter der Bezeichnung digitale Geisteswissenschaften bzw. Digital Humanities (vgl. Borgman 2015: 37, 161-164; Thaller 2017: 3-5). Die gezielte Unterstützung der digitalen Transformation stellt alle Akteure des Wissenschaftssystems, nicht nur in den Digital Humanities, vor große Herausforderungen und findet seinen Niederschlag auf wissenschafts- und förderpolitischen Agenden (vgl. RfII 2016: 9). Neben neuen Berufsbildern, neuen Studiengängen, einer neuen Datenkultur und neuen Anreizsystemen, wird in diesem Zusammenhang auch die Forderung nach der Schaffung geeigneter infrastruktureller Rahmenbedingungen laut (vgl. RfII 2016: 49-58).
Im Kontext dieser Diskussion spielen die geisteswissenschaftliche Forschung begleitende und unterstützende lokale, nationale und internationale (digitale) Infrastrukturen eine zentrale Rolle, wobei zunächst meist deren technologische Aspekte im Mittelpunkt stehen (vgl. Thaller 2017: 11). Inzwischen wird jedoch auch verstärkt der soziale Aspekt von Infrastrukturen thematisiert und ihre Rolle als soziale Netzwerke (sogenannte Peer-to-Peer-Netzwerke) anerkannt, denen eine grundlegende Bedeutung bezüglich der Veränderung der Forschungskulturzukommen kann. Mit anderen Worten, der Begriff digitale Forschungsinfrastruktur sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Mittelpunkt digitaler Forschungsinfrastrukturen immer zunächst Menschen und ihre Interaktionen, Bedürfnisse und Forschungsinteressen stehen (sollten), d. h. digitale Forschungsinfrastrukturen in den Geisteswissenschaften haben wichtige soziale Komponenten (vgl. Wissenschaftsrat 2011: 70; Anne et al. 2017: 26–29).
Während sich auf nationaler und internationaler Ebene bereits verschiedene – mehr oder weniger breit angelegte – Initiativen, Projekteu. ä. auf das Ermitteln von Bedarfen und die Entwicklung und Bereitstellung entsprechender Ressourcen und Dienste für die Digital Humanities spezialisiert haben (wie z. B. der DHd-Verband, CLARIAH oder einzelne Konsortien der zukünftigen NFDI), besteht bezüglich der durch die zunehmende Digitalisierung der Geisteswissenschaften bedingten neuen Organisationsformen und infrastrukturellen Bedarfe an einzelnen Standorten noch konkreter Forschungs- und Handlungsbedarf (vgl. HRK 2014, Roeder et al. 2019).
Unabhängig davon, ob die Digital Humanities als eigenständige Disziplin betrachtet werden oder als ein Phänomen in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern als Ausdruck verschiedener Grade der digitalen Transformation (vgl. Sahle 2015), wird einerseits postuliert, dass sie ihnen als Motor der Transformation und Reflexion eine tragenden Rolle in diesen soeben angerissenen Prozessen zukommt, andererseits wird Kritik geäußert, dass es sich um einen Hype handelt, der seinen tieferen Sinn noch nicht bewiesen hat (vgl. DFG o. J.; Posner 2016; Underwood 2019). Wenn wir das Prinzip
In dubio pro reo gelten lassen wollen, d. h. "Im Zweifel für den Angeklagten", dann müssen wir uns zunächst ernsthaft und vorbehaltlos fragen, welche Bedingungen den Digital Humanities zuträglich sind, um die ihnen zugesprochenen Potenziale voll zu entfalten.
Fakt ist, dass die Digital Humanities nicht in einem luftleeren Raum existieren. Ihr „Spielraum“ befindet sich zwischen „traditionellen“ geisteswissenschaftlichen Fächern und je nach Forschungskontext anderen relevanten Fächern, wie z. B. der Informatik oder den Medienwissenschaften. Es stellt sich damit die besondere Herausforderung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die einerseits „genuinen“ Digital Humanities-Forschungsaktivitäten (im engeren Sinn als Brückenfach zwischen Geisteswissenschaften und Informatik, vgl. Sahle 2015) und anderseits der breiteren Digitalisierung geisteswissenschaftlicher Forschungsprozessedienlich sind, d. h. Wissenschaftler*innen und Studierende bei der nachhaltigen Implementierung neuer Forschungsparadigmen zu unterstützen (vgl. Harrower 2015: 12).
Trotz der Zentralität der Fragestellung, werden diese institutionellen und infrastrukturellen Dimensionen der Digital Humanities in Deutschland noch relativ selten übergreifend reflektiert. Zwar existieren bereits verschiedene Modelle und Ansätze zur institutionellen Förderung der Digital Humanities, insbesondere aus anglo-amerikanischer Sicht (vgl. für den anglo-amerikanischen Raum u. a. Posner 2016; Anne et al. 2017), aber es liegen nur wenige auf das deutsche universitäre System bezogene Erkenntnisse vor (vgl. für Deutschland u. a. Burghardt und Wolff 2015). Angesichts des zunehmenden Bewusstseins, dass die Digital Humanities neue Anforderungen an die Organisationsformen der geisteswissenschaftlichen Forschung und Lehre in ihrer Gesamtheit stellen, greift der Beitrag die Konkretisierung dieser Anforderungen als Forschungsdesiderat auf. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen die Ergebnisse einer Untersuchungmit der zentralen Frage, wie aus demsogenannten
Computational Turn der Geisteswissenschaften entstehende Bedarfe konkret in institutionellen Digital-Strategien adressiert werden können, speziell für den
Use Case der Digital Humanities-Forschungan deutschen Universitäten (vgl. Wuttke 2019).
Ziel der Untersuchung war es, basierend auf externen Erfahrungswerten potentielle Erfolgsfaktoren für einen universitären Digital Humanities-Schwerpunkt herauszuarbeiten, die als Anhaltspunkt für institutionelle Strategieprozesse dienen und jeweils entsprechend der individuellen Rahmenbedingungen verfeinert werden können. Es sollten unmittelbare Einsichten in
Good Practices aus der Sicht von in Digital Humanities-"Labore" involvierten Wissenschaftler*innen gewonnen werden und in Relation zu Erfahrungswerten aus dem In- und Ausland gesetzt werden. Hierfür wurden die Rahmenbedingungen und Entwicklungspfade vier erfolgreicher deutscher Digital Humanities-Standorte aus der Sicht beteiligter Wissenschaftler*innen analysiert (Expert*inneninterviews) und vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Entwicklungen Empfehlungen abgeleitet.
Die Standorte für die Expert*inneninterviews wurden durch eine quantitative Erhebung ermittelt, die auf einem eigens für die Untersuchung entwickelten Vorschlag für die Quantifizierung der Forschungsstärke von Digital Humanities-Standorten beruht, der im Beitrag näher erläutert wird. Zentrales Element der Auswahl der Standorte für die Expert*inneninterviews war eine umfängliche Auswertung der zur Verfügung stehenden Books of Abstracts vergangener DHd-Konferenzen (2015-2018) anhand des zuvor definierten Kriteriums "Erfolg in der Digital Humanities-Forschung". Letztendlich wurden mit jeweils einem Vertreter oder einer Vertreterin der Digital Humanities-Forschung der am besten plazierten universitären Standorte, nämlich der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, der Universität zu Köln, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Stuttgart leitfadenbasierte Expert*inneninterviews geführt. Der hierfür verwendete Interviewleitfaden wurde aufgrund des Stands der Forschung unter Einbeziehung eigener Erfahrungen formuliert und mit den Expert*innen der ausgewählten Standorte erörtert.
Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Diskussion eines aus den Ergebnissen der Expert*inneninterviews abgeleiteten fünfstufigen Modells infrastruktureller Erfolgsfaktoren für die universitäre Digital Humanities-Forschung, insbesondere die aus Sicht der Expert*innen diesbezüglich essentielle Rolle sozialer Faktoren.
Das im Folgenden vorgestellte, abstrakte, fünfstufige Modell ist erweiterbar und modifizierbar. Seine Ebenen reichen von der Schaffung von Grundvoraussetzungen
(state of mind) bis zur Etablierung komplexer bzw. langfristiger Strukturen. Im Beitrag werden die fünf Ebenen bzw. infrastrukturellen Erfolgsfaktoren näher erläutert:
Das vorgestellte fünfstufige Modell unterstreicht, dass die Digital Humanities als
community-induziertes Phänomenzu betrachten sind. Digital Humanities-Schwerpunkte benötigen zu ihrer infrastrukturellen Stimulierung und Konsolidierung der 1) Induktion in Form von Wegbereiter*innen bzw. Vermittler*innen und der 2) Inkubation in Form von institutionellen Denkräumen zwischen geisteswissenschaftlichen Forschungsfragen und informationstechnischen Lösungswegen (vgl. Edmond 2016: 57; Rehbein und Sahle 2013: 227). In diesem Zusammenhang wird auch der ungebrochene aber in der Forschung nicht unkritisch betrachtete Trend zur Bündelung bzw. Institutionalisierung der Digital Humanities als sogenannte Digital Humanities Center (DHC) diskutiert (vgl. Maron und Pickle 2014; Prescott 2016; Mortiz et al. 2017: 102).
Anschließend wird ein sich aus den Expert*inneninterviews extrahiertes Grundmuster als mögliche Handlungsempfehlungen für die Entwicklung von institutionellen Digital Humanities-Strategien mit dem Ziel der breiteren digitalen Durchdringung der Geisteswissenschaften zur Diskussion gestellt. Diese Empfehlungen richten sich insbesondere an Personen, die an entsprechenden universitären Strategieprozessen beteiligt sind, sie können aber auch für andere Einrichtungstypen modifiziert werden. Konkret handelt es sich um folgende Empfehlungen:
Abschließend wird thematisiert, welche Bedeutung dieses Ergebnis für den Auf- und Ausbau universitärer Digital Humanities-Schwerpunkte und darüber hinaus hat, d. h. seine Implikationen für die breitere Diskussion über infrastrukturelle Rahmenbedingungen und Organisationsmodelle der Digital Humanities, ihre zukünftigen Entwicklungspfade und ihr Selbstverständnis als Community. Hierbei ist besonders die grundlegende Wichtigkeit der ganzheitlichen Betrachtung infrastruktureller Erfolgsfaktoren hervorzuheben, d. h. die Einbeziehung sozialer und technologischer Aspekte, weil soziale und wissenschaftspolitische Prozesse eine essentielle Rolle für das Digital Humanities-Ökosystem spielen und einen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und die Ausstrahlung der Digital Humanities auf die breiteren Geisteswissenschaften haben (vgl. Hügi und Schneider 2013: i). Mit anderen Worten, die Digital Humanities sind ein stark
community-induziertes Phänomen und für ihren Erfolg sind soziale Faktoren und Kompetenzen wie Kooperationsgeist, Interdisziplinarität und die Etablierung einer Kultur des Lernens und riskanten Denkens (und Scheitern-Dürfens!) genauso wichtig wie technologische Aspekte (vgl. Lewis et al. 2015: 2). Diese Erkenntnisse haben neben der Auslotung hierfür förderlicher Organisationsmodelle auch Bedeutung für die Besetzung universitärer Curricula.
Die gezielte und enge Verzahnung von Digital Humanities-Aktivitäten mit der geisteswissenschaftlichen Forschung – im Fall von Universitäten mit den geisteswissenschaftlichen Fakultäten – ist laut dieser Studie ein wichtiger Schlüssel für ihre breitere Akzeptanz, für Kooperationsanbahnungen und Transformationsimpulse. Die vorgestellten Ergebnisse sollen darüber hinaus als Diskussionsimpuls für die Übertragung auf andere, vor ähnlichen Herausforderungen stehende, Institutionen, wie z. B. außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, dienen.