Keine Rechtskraftdurchbrechung des Vollstreckungsbescheids wegen unrichtigen Rechenansatzes des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs
Leitsatz
1. Die besonderen Voraussetzungen, unter denen die Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid ausnahmsweise unzulässig sein kann, liegen nicht bereits deshalb vor, weil der geltend gemachte Schadensersatzanspruch der Höhe nach unstimmig begründet war und deshalb im ordentlichen Verfahren ein Versäumnisurteil nicht ohne vorherige Berichtigung des Rechenansatzes ergangen wäre.










vorgehend LG München II, 18. April 1989, 4 O 3427/88


Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Duldung der Zwangsvollstreckung in deren Grundeigentum aus Sicherungshypotheken über insgesamt 1.642.039,99 DM, die aufgrund rechtskräftiger Vollstreckungsbescheide eingetragen worden sind, und wendet sich gegen die auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung und Herausgabe der Vollstreckungsbescheide gerichtete Widerklage.
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Durch notariellen Vertrag vom 23. Juni 1987 hatte der Kläger von den Beklagten Grundstücke in der Gesamtgröße von ca. 7,8 ha zum Zweck des Kiesabbaus gekauft. Die Beklagten hatten sich zur Verschaffung lastenfreien Eigentums verpflichtet.
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Da die Beklagten diese Pflicht nicht erfüllten, setzte der Kläger mit Schreiben vom 21. August 1987 eine Frist bis zum 1. September 1987 und mit Schreiben vom 22. Oktober 1987 eine weitere Frist bis zum 4. November 1987, jeweils verbunden mit der Androhung, nach Fristablauf die Erfüllung abzulehnen, und kündigte einen Schadensersatzanspruch an, den er im wesentlichen mit einem entgangenen Gewinn in Höhe von 1,6 Millionen DM rechtfertigte. Die Höhe war im ersten Schreiben mit "ca. 2 Mio. Tonnen a qm 0,80 DM 1.600.000,-", im zweiten mit "ca. 2 Mio. t a cbm 0,80 DM 1.600.000,-" erläutert.
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Die Beklagten reagierten nicht. Der Kläger erwirkte je einen Vollstreckungsbescheid gegen beide Beklagte über 1.624.607,06 DM nebst 7% Zinsen, in denen der Verurteilungsgegenstand mit "Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung des Kaufvertrages vom 23.6.87 UR-Nr. 1409/87 des Notars S. gemäß Schreiben vom 22.10.1987" beschrieben war, und ließ nach deren Rechtskraft Sicherungshypotheken auf dem Grundeigentum der Beklagten eintragen.
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Seiner Klage auf Duldung der Zwangsvollstreckung aus diesen Hypotheken hat das Landgericht durch Versäumnisurteil vom 13. Juli 1988 stattgegeben. Nach Einspruch und Widerklage hat das Landgericht durch Urteil vom 12. April 1989 das Versäumnisurteil aufrechterhalten und die Widerklage abgewiesen. Unter Abänderung dieses Urteils hat das Berufungsgericht das Versäumnisurteil aufgehoben, die Klage abgewiesen und dem Widerklagebegehren entsprochen.
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Dagegen richtet sich die Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist begründet. Sie führt zur Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
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1. Nach gefestigter Rechtsprechung muß die Rechtskraft eines materiell unrichtigen Titels zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, daß der Titelgläubiger seine Rechtsstellung unter Mißachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt. Eine solche Anwendung des § 826 BGB muß jedoch auf besonders schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben, weil sonst die Rechtskraft ausgehöhlt, die Rechtssicherheit beeinträchtigt und der Rechtsfrieden in Frage gestellt würde (vgl. BGHZ 101, 380, 384; BGH, Urteil vom 22. Dezember 1987 - VI ZR 165/87 - NJW 1988, 971, 972; Senatsurteil vom 29. November 1988 - XI ZR 85/88 - NJW 1989, 1285; Urteil vom 3. Juli 1990 - XI ZR 302/89 - WM 1990, 1816, 1817f.).
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Solche Ausnahmefälle sind in der Rechtsprechung zum Konsumentenkredit (BGHZ 101, 380, 384f.) unter der Voraussetzung bejaht worden, daß der Vollstreckungstitel materiell unrichtig ist, dem Titelgläubiger die Unrichtigkeit bekannt ist und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund deren es dem Gläubiger zugemutet werden muß, die ihm zugefallene Rechtsposition aufzugeben.
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2. Das Berufungsgericht hat diese Voraussetzungen bejaht und ausgeführt: Die Vollstreckungsbescheide seien unrichtig, weil der neben dem Kaufpreis von 460.000 DM vereinbarte Erlaß eines Anspruchs des Klägers von ca. 16.000 DM nicht beurkundet worden sei und weil - mit der Folge teilweiser Unrichtigkeit - der Anspruch auf entgangenen Gewinn wegen des Fehlers in der Berechnung (Verwechslung von Kubikmetern und Tonnen) nicht schlüssig begründet worden sei; die - die Annahme der Sittenwidrigkeit der Vollstreckungsbescheide begründenden - besonderen Umstände lägen in der Ausnutzung des Mahnverfahrens; der Kläger hätte nämlich erkennen können, daß eine gerichtliche Schlüssigkeitsprüfung wegen des Berechnungsfehlers zur Ablehnung seines Klagebegehrens geführt hätte.
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3. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
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a) Es kann dahingestellt bleiben, ob die Rüge des Klägers durchgreift, das Berufungsgericht habe gegen § 398 Abs. 1 ZPO verstoßen (vgl. BGH, Urteil vom 22. September 1988 - IX ZR 219/87 - NJW-RR 1989, 380; Urteil vom 3. November 1987 - VI ZR 95/87 - BGHR ZPO § 398 Abs. 1 Ermessen 3), indem es ohne erneute Beweisaufnahme im Gegensatz zum Landgericht zu der Feststellung gelangt ist, der Erlaß einer Forderung des Klägers in Höhe von etwa 16.000 DM sei als weitere Gegenleistung für die Übertragung des Grundbesitzes anzusehen. Keiner Entscheidung bedarf auch die Frage, ob diese Feststellung ausreichte, die Formnichtigkeit des Grundstückskaufvertrages anzunehmen, ohne auf die naheliegende Frage einzugehen, ob die Parteien den Kaufvertrag auch ohne den vom Beklagten zu 1) nach der Einigung über den Kaufpreis erbetenen Erlaß seiner Schulden abgeschlossen hätten (vgl. dazu BGH, Urteil vom 20. Juni 1980 - V ZR 84/79 - NJW 1981, 222). Selbst wenn man von der Unwirksamkeit des Grundstückskaufvertrages ausgeht, würde dies nur dazu führen, daß dem Kläger keine Schadensersatzansprüche zustehen und der Titel deshalb materiellrechtlich unrichtig wäre. Das Berufungsgericht räumt selbst ein, daß dies in einer Schlüssigkeitsprüfung nicht aufgedeckt worden wäre und im übrigen wegen fehlender Erkennbarkeit für den Kläger den Vorwurf einer Ausnutzung des Mahnverfahrens zur Titelerschleichung nicht begründen könnte.
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b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt zur Annahme "besonderer Umstände" das Fehlen einer gerichtlichen Schlüssigkeitsprüfung vor Erlaß von Vollstreckungsbescheiden regelmäßig nicht. Solche Umstände sind bei zugrundeliegenden sittenwidrigen Konsumentenkrediten nur bejaht worden, wenn der Gläubiger erkennen konnte, daß eine gerichtliche Schlüssigkeitsprüfung wegen Sittenwidrigkeit des Kreditgeschäfts zu einer Ablehnung des Klagbegehrens führen würde, und er sich des Mahnverfahrens bedient und einen Vollstreckungsbescheid erwirkt, nachdem der Schuldner aufgrund seiner Unerfahrenheit - ebenfalls im Hinblick auf die gegebene Sittenwidrigkeit - schon gegen den Mahnbescheid keinen Widerspruch erhoben hatte (vgl. BGHZ 101, 380, 385f.; Senatsurteil vom 3. Juli 1990 aaO).
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Es bedarf keiner Entscheidung, ob diese Rechtsprechung auf Fallgruppen mit klar umrissener sittenwidriger Typik zu beschränken ist, weil andernfalls das Mahnverfahren weitgehend seines Sinnes entleert und ein Anreiz geschaffen wird, Rechtsstreitigkeiten, die mit einem rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid beendet worden sind, im Gewande einer Klage auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung wieder aufzurollen (vgl. BGHZ 103, 44, 48ff.). Denn selbst wenn man diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall erstrecken wollte, könnte keine Rede von einem Mißbrauch des Mahnverfahrens durch den Kläger sein.
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Der Kläger hatte keinen Anlaß, eine Schlüssigkeitsprüfung zu fürchten und sich deswegen des Mahnverfahrens zu bedienen. Aus seiner Sicht hatte sein Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung, nachdem die Beklagten ihrer Verpflichtung auf lastenfreie Eigentumsverschaffung aus dem Kaufvertrag nicht nachgekommen waren und er deshalb unter Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung Schadensersatzansprüche angekündigt hatte, im Recht der Leistungsstörungen eine solide Grundlage. Selbst wenn der Kläger in einer auf Schadensersatz gerichteten Klage die Unstimmigkeiten bei der Berechnung der Höhe des Anspruchs aus seinen vorprozessualen Schreiben vom 21. August 1987 oder vom 22. Oktober 1987 übernommen hätte, brauchte er nicht mit einer Abweisung wegen Unschlüssigkeit zu rechnen. Auf entsprechenden, nach §§ 139, 278 Abs. 3 ZPO erforderlichen Hinweis hätte er das offensichtliche Versehen in der Schadensberechnung beheben und klarstellen können, daß sich der entgangene Gewinn aus den Faktoren 0,80 DM und 2 Millionen (Kubikmeter abzubauender Kies) errechnet; einem Versäumnisurteil hätte dann nach Einhaltung der Frist des § 132 ZPO nichts mehr im Wege gestanden.
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