Grenzen der ergänzenden Vertragsauslegung
Leitsatz
Die ergänzende Vertragsauslegung darf nicht zu einem Ergebnis führen, das dem erkennbaren Willen der Vertragsparteien widerspricht.












vorgehend LG München II, 18. März 1993, 14 O 8592/92
Vergleiche FG Münster 10. Senat, 2. Juli 2009, 10 K 4972/05 Kap
Vergleiche FG München 12. Senat, 9. Dezember 2008, 12 K 4221/05


Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB
● Backmann, 8. Auflage 2017, § 157 BGB
● Kühle, 8. Auflage 2017, § 516 BGB
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 25. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 23. November 1993 insoweit aufgehoben, als darin zum Nachteil des Beklagten erkannt wurde. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil der 14. Zivilkammer des Landgerichts München II vom 18. März 1993 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.
Die Kläger haben die Kosten der Rechtsmittelverfahren zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Kläger verlangen von dem Beklagten die Rückzahlung eines Darlehensrestbetrages von 100.000 DM nebst Zinsen. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
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Die Kläger stellten dem Beklagten, ihrem einzigen Kind, als Beitrag zur Finanzierung eines Grundstücks 350.000 DM zur Verfügung. Davon erhielt der Beklagte 150.000 DM schenkweise gegen Verzicht auf das Pflichtteilsrecht nach dem Tode des erstversterbenden Elternteils sowie 200.000 DM als zinsloses Darlehen. Über das Darlehen schlossen die Parteien am 19. Juli 1989 eine schriftliche Vereinbarung, deren Ziffer II wie folgt lautet:
"II.
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Das Darlehen ist, wie folgt, zur Rückzahlung fällig:
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a) ein Hälftebetrag zu DM 100.000,-- zu dem Zeitpunkt, zu welchem der Sohn eine Teilfläche des von ihm gekauften Baugrundstücks veräußert hat oder - kommt es zu keiner solchen Teilveräußerung - mit Baubeginn (Erdaushub) auf diesem Grundstück oder mit dessen totaler Wiederveräußerung oder, sofern diese Voraussetzungen nicht innerhalb der nächsten 36 Monate vorliegen, zwölf Monate nach Kündigung durch die Darlehensgeber.
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b) der weitere Hälftebetrag wird ohne Frist allein sofort bei Wiederveräußerung des gesamten Baugrundstücks Flur. ... der Gemarkung G. fällig.
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Kündigungen haben schriftlich mit Empfangsbestätigung durch den Empfänger oder per Einschreiben zu erfolgen."
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Bevor es zum Vertragsschluß kam, hatten die Kläger dem Beklagten einen von ihnen bereits unterschriebenen Vertragsentwurf zugeleitet, der unter Ziffer II Buchstabe b) auch ein beiderseitiges Kündigungsrecht mit zwölfmonatiger Frist zum Ende eines jeden Monats enthielt. Der Beklagte hatte sich jedoch geweigert, diesen Entwurf zu unterschreiben.
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Der Beklagte hat inzwischen eine Teilfläche des Grundstücks veräußert und 100.000 DM an die Kläger zurückgezahlt.
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Die Kläger haben mit Schreiben vom 13. Januar 1992 das restliche Darlehen in Höhe von 100.000 DM zum 30. April 1992 gekündigt. Die Parteien streiten darüber, ob diese Kündigung wirksam war.
- 10
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht hat ihr bis auf einen Teil der geltend gemachten Zinsen stattgegeben. Mit der Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
- 11
Die Revision führt zur Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
I.
- 12
Das Berufungsgericht hat einen fälligen Rückzahlungsanspruch der Kläger bejaht. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
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Aus der schriftlichen Vereinbarung vom 19. Juli 1989, die an mehreren Stellen das Wort "Darlehen" verwende und nirgends von Schenkung spreche, ergebe sich, daß ein Darlehen vereinbart und damit die Rückzahlung verabredet worden sei. Für eine auflösend bedingte Schenkung oder einen auflösend bedingten Erlaß der Rückzahlungsforderung fehlten hinreichende Anhaltspunkte und insbesondere ein entsprechender Vertragswille der Kläger. Ihr Wille ergebe sich aus dem von ihnen unterschriebenen Vertragsentwurf, der eine reguläre Kündigung des Darlehens vorgesehen habe. Eine Änderung dieses Willens sei nicht anzunehmen und könne nicht aus der Fälligkeitsregelung in Ziffer II Buchstabe b) der Vertragsurkunde gefolgert werden. Eine solche Regelung betreffe nur die Geltendmachung und nicht den Bestand der Forderung. Aus ihrer Unvollständigkeit könne nicht auf eine Schenkung des Geldes oder einen Erlaß der Rückzahlung geschlossen werden, weil eindeutige Hinweise auf eine entsprechende Willensrichtung der Kläger fehlten.
- 14
Die in der Unvollständigkeit der Fälligkeitsregelung liegende Vertragslücke müsse nach den Grundsätzen über die ergänzende Vertragsauslegung unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Parteiwillens gefüllt werden. Daher sei die ursprünglich von den Klägern vorgesehene Kündigungsregelung maßgeblich, der vermutlich auch der Beklagte zugestimmt hätte, wenn er erkannt hätte, daß die Streichung der Kündigungsregelung die Rückzahlungsverpflichtung habe bestehen lassen.
II.
- 15
Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Auslegung des Darlehensvertrags vom 19. Juli 1989 durch das Berufungsgericht leidet an durchgreifenden Rechtsfehlern.
- 16
1. Die Auslegung einzelvertraglicher Regelungen durch die Instanzgerichte kann vom Revisionsgericht insoweit nachgeprüft werden, als gesetzliche Auslegungsregeln, anerkannte Auslegungsgrundsätze, Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften verletzt worden sind (BGH, Urteil vom 13. Dezember 1990 - IX ZR 33/90 = WM 1991, 495, 496 m.w.Nachw.). Darüber hinaus ist eine Vertragsauslegung revisionsrichterlicher Überprüfung auch dann zugänglich, wenn sie von einer unzutreffenden rechtlichen Würdigung beeinflußt ist.
- 17
2. Zu den anerkannten Auslegungsgrundsätzen gehört es, daß die Vertragsauslegung in erster Linie den von den Parteien gewählten Wortlaut der Vereinbarungen und den diesem zu entnehmenden objektiv erklärten Parteiwillen zu berücksichtigen hat (BGHZ 121, 13, 16). Dagegen hat das Berufungsgericht dadurch verstoßen, daß es in seinen Entscheidungsgründen nicht auf den Inhalt und Aufbau der hier einschlägigen Ziffer II des Vertrages vom 19. Juli 1989 eingegangen ist. Diese Vertragsbestimmung regelt unter Buchstabe a) die Voraussetzungen, unter denen ein Hälftebetrag des Darlehens zur Rückzahlung fällig werden soll, und sieht in diesem Zusammenhang auch ein Kündigungsrecht der Kläger vor. Unter Buchstabe b) wird sodann für die hier interessierende weitere Darlehenshälfte kein Kündigungsrecht eingeräumt und statt dessen bestimmt, daß dieser Hälftebetrag "allein" im Falle der Wiederveräußerung des gesamten Baugrundstücks fällig werden soll. Das Berufungsurteil läßt eine Auseinandersetzung mit diesem deutlichen Wortlaut der Ziffer II Buchstabe b) und seinem ins Auge springenden Gegensatz zum Wortlaut von Ziffer II Buchstabe a) vermissen.
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3. Wenn das Berufungsgericht statt dessen auf die Verwendung des Wortes "Darlehen" in dem genannten Vertrag abstellt und aus der fehlenden Erwähnung einer Schenkung folgert, daß eine Kündigungsmöglichkeit gegeben sein müsse, so sind seine Überlegungen von Rechtsirrtum beeinflußt. Ein Darlehen verliert nicht dadurch seinen Charakter als Darlehen und wird von Anfang an zur Schenkung, daß für einen Teil des Darlehensbetrags die Rückzahlung von einem ungewissen künftigen Ereignis abhängig gemacht und eine ordentliche, nur an die Einhaltung bestimmter Fristen gebundene Kündigung ausgeschlossen wird. Das gilt schon deshalb, weil bei unbefristeten Darlehen ebenso wie bei allen Dauerschuldverhältnissen ein vertraglich nicht ausschließbares Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund besteht (vgl. MünchKomm/H.P. Westermann, 2. Aufl., BGB § 610 Rdn. 13 m.w.Nachw.). In diesem Zusammenhang erscheint auch die vom Berufungsgericht getroffene Unterscheidung von Bestand und Geltendmachung einer Darlehensforderung rechtlich verfehlt. Der Bestand einer Forderung bleibt von Regelungen, die ihre Geltendmachung an bestimmte Voraussetzungen knüpfen, unberührt, solange nicht feststeht, daß die Voraussetzungen der Geltendmachung nie eintreten werden.
- 19
4. Eine Vertragsauslegung kann zwar auch zu einem vom Wortlaut abweichenden Ergebnis gelangen, wenn sich ein dies rechtfertigender übereinstimmender Wille der Vertragspartner feststellen läßt (§ 133 BGB). Einen solchen übereinstimmenden Willen der Parteien hat das Berufungsgericht jedoch nicht festgestellt, sondern einseitig auf die von ihm vermutete Willensrichtung der Kläger abgestellt. Dabei hat es nicht berücksichtigt, daß der Beklagte die Unterzeichnung des ersten Vertragsentwurfs der Kläger gerade wegen der Kündigungsregelung für die zweite Darlehenshälfte abgelehnt hatte und daher die Entfernung der Kündigungsregelung aus dem ihm ebenfalls von der Klägerseite vorgelegten endgültigen Vertragstext dahin verstehen durfte, daß die Kläger nunmehr damit einverstanden waren, diese Darlehenshälfte nicht im Wege einer an keine besonderen Voraussetzungen gebundenen ordentlichen Kündigung zur Rückzahlung fällig stellen zu können.
- 20
5. In diesem Zusammenhang hat das Berufungsgericht auch die Grenzen verkannt, die einer ergänzenden Vertragsauslegung gesetzt sind. Da eine inhaltliche Abänderung von Verträgen im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nicht zulässig ist, kann das, was dem tatsächlichen Willen der Vertragsparteien widerspricht, nicht als Inhalt ihres hypothetischen Willens angenommen und so zum Vertragsinhalt gemacht werden (BGHZ 90, 69, 77 m.w.Nachw.). Das Berufungsgericht durfte deshalb, wie die Revision mit Recht rügt, die vom Beklagten ausdrücklich abgelehnte Kündigungsregelung nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung in den Darlehensvertrag einfügen.
III.
- 21
Das Berufungsurteil mußte daher aufgehoben werden. Da weitere tatsächliche Feststellungen nicht erforderlich sind, konnte der Senat den Darlehensvertrag der Parteien selber auslegen mit dem Ergebnis, daß den Klägern das von ihnen in Anspruch genommene Kündigungsrecht für die zweite Darlehenshälfte nicht zustand. Das ergibt sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang der Fälligkeitsregelungen unter Ziffer II des Darlehensvertrags und wird durch die Vorgeschichte des Vertragsschlusses bestätigt. Zusätzlich zeigt die in Ziffer V des Darlehensvertrags aufgenommene, in dem vom Beklagten abgelehnten Vertragsentwurf noch nicht enthaltene Regelung über die Zahlung einer etwaigen Schenkungssteuer, daß den Parteien durchaus bewußt war, mit der Streichung der ordentlichen Kündigungsmöglichkeit für die zweite Darlehenshälfte eine den Beklagten erheblich begünstigende Regelung zu treffen. Daß die Kläger ungeachtet der bereits damals vorhandenen familiären Spannungen zu einem solchen Entgegenkommen bereit waren, erscheint auch deshalb plausibel, weil der Beklagte ihr einziges Kind ist, das Darlehen dem Beklagten die Errichtung eines eigenen Hauses für sich und seine Familie ermöglichen sollte, wofür die Kläger ohnehin von Anfang an 150.000 DM schenkweise zur Verfügung stellen wollten, und weil dies alles im Zusammenhang stand mit einem vom Beklagten zu erklärenden Pflichtteilsverzicht nach dem Erstversterbenden der Kläger.
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