Sittenwidrige Ausnutzung eines materiell unrichtigen, nicht erschlichenen Vollstreckungstitels über Ratenkreditrückzahlung
Leitsatz
1. Die Tatsache, daß der Gläubiger aus einem nicht erschlichenen, materiell falschen Vollstreckungstitel mehr erhalten hat, als ihm bei zutreffender Beurteilung der Rechtslage zustünde, stellt für sich allein keinen besonderen Umstand dar, der die weitere Vollstreckung als sittenwidrige Ausnutzung des Titels erscheinen lassen könnte.












vorgehend LG Frankfurt, 27. April 1988, 2/22 O 359/87
Vergleiche OLG Hamm 11. Zivilsenat, 27. Februar 1991, 11 W 36/90





... mehrHerberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB
● Reichold, 8. Auflage 2017, § 826 BGB
Tatbestand
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Die B. Kreditbank KG gewährte dem Kläger entsprechend seinem Antrag vom 20. März 1975 einen Ratenkredit zu folgenden Bedingungen:
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Darlehensbetrag 15.000,-- DM Bearbeitungsgebühren 450,-- DM Bankgebühren 150,-- DM Kosten für die Restschuldversicherung 1.123,-- DM Kreditgebühren (1,0% p.M.) 7.023,70 DM Wechselsteuer 37,80 DM Inkassogebühren 126,-- DM ------------
Gesamtkredit 23.910,50 DM
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Der Kredit sollte ab 1. Mai 1975 in einer Rate von 581,50 DM und 41 weiteren Monatsraten von 569 DM zurückgezahlt werden. Der Kläger zahlte ab 1. Mai 1975 11 Raten (insgesamt 6.271,50 DM), war jedoch dann zu weiteren Zahlungen nicht in der Lage. Am 8. März 1977 kündigte die B. Kreditbank KG das Darlehen. Anschließend zahlte der Kläger 10 Monatsraten zu 350 DM (insgesamt 3.500 DM). Im Juli 1977 wurde außerdem ein Betrag von 5.700 DM an die Kreditgeberin überwiesen. Am 21. Juli 1980 erwirkte sie einen Vollstreckungsbescheid über 14.322,50 DM nebst 0,05% vertragliche Kreditgebühren pro Tag seit 29. Mai 1980, der rechtskräftig geworden ist. In der Zeit vom März 1983 bis 15. Juni 1986 zahlte der Kläger weitere 21.052,90 DM. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß sich die gesamten Zahlungen des Klägers auf 36.524,40 DM belaufen. Ihre Restforderung gegen den Kläger hat die Kreditgeberin an die Beklagte abgetreten.
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Der Kläger wendet sich gegen die Zwangsvollstreckung aus dem Vollstreckungsbescheid. Er ist der Ansicht, daß der Darlehensvertrag sittenwidrig sei und die Beklagte deshalb nach § 826 BGB die Zwangsvollstreckung aus dem Vollstreckungsbescheid zu unterlassen und den Titel herauszugeben habe.
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Die Beklagte macht geltend, daß der Darlehensvertrag nicht sittenwidrig sei, da kein auffälliges Mißverhältnis zwischen Vertrags- und Marktzins bestehe. Im übrigen fehle es an den besonderen Umständen, die zur objektiven Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels hinzutreten müßten, damit die Vollstreckung unzulässig werde.
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Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist begründet.
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1. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus dem rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid vom 21. Juli 1980 wegen sittenwidriger Titelausnutzung (§ 826 BGB) bejaht. Es hat dazu ausgeführt: Der zwischen den Parteien geschlossene Darlehensvertrag sei nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Es handele sich um ein wucherähnliches Kreditgeschäft, bei dem ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung bestehe. Der Vertragszins übersteige den damaligen Marktzins um 120,7%. Der Vollstreckungsbescheid sei sachlich unrichtig, weil der Beklagten kein vertraglicher Anspruch zustehe. Zwar lasse sich nicht mit Sicherheit feststellen, daß die Beklagte den Titel in unlauterer Weise erschlichen habe. Denn im Juli 1980 habe noch keine gesicherte Rechtsprechung vorgelegen, die die Feststellung erlauben würde, die Rechtsvorgängerin der Beklagten habe das Mahnverfahren mißbraucht oder sich zumindest der Erkenntnis leichtfertig verschlossen, daß die geltend gemachte Forderung gerichtlicher Überprüfung nicht standhalten würde. Jedoch sei hier die Ausnutzung des rechtskräftigen Vollstreckungsbescheids ausnahmsweise insoweit als sittenwidrig zu mißbilligen, als die Beklagte über den vom Kläger bereits geleisteten Betrag von 36.524,40 DM hinaus vollstrecke. Denn als besonderer Umstand trete hinzu, daß der Beklagten aus dem sittenwidrigen Titel bereits soviel zugeflossen sei, daß jede weitere Vollstreckung das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletze.
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2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
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a) Ohne Rechtsirrtum hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGHZ 80, 153; 98, 174; 99, 333; 101, 380; 104, 102, 104f.; Senatsurteile vom 20. Februar 1990 - XI ZR 195/88, WM 1990, 534, vom 13. März 1990 - XI ZR 254/89, WM 1990, 625, 626, vom 13. März 1990 - XI ZR 252/89, WM 1990, 669, 670 und vom 3. April 1990 - XI ZR 261/89, WM 1990, 918, 919) für den hier in Rede stehenden Kredit eine relative Überschreitung des Marktzinses um 120,74% und damit ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung festgestellt.
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Es hat auch nicht verkannt, daß die damit gegebene objektive Unrichtigkeit des Vollstreckungsbefehls grundsätzlich nicht ausreicht, die Vollstreckung aus diesem Titel als sittenwidrig anzusehen. Zutreffend hat es deshalb geprüft, ob die Besonderheiten des Mahnverfahrens im vorliegenden Fall dazu geführt haben, daß der Gläubiger für einen materiell nicht gerechtfertigten Anspruch einen rechtskräftigen Vollstreckungstitel erwirken konnte (vgl. dazu BGHZ 101, 380, 387ff.). Es hat diese Frage unter Würdigung der bis zum Erlaß des Vollstreckungsbefehls ergangenen und veröffentlichten höchstrichterlichen Rechtsprechung mit der aus Rechtsgründen nicht zu beanstandenden Begründung verneint, für diesen Zeitpunkt habe noch keine gesicherte Rechtsprechung vorgelegen, die die Feststellung erlauben würde, die Kreditgeberin habe das Mahnverfahren mißbraucht oder sich der Erkenntnis verschlossen, daß sie mit ihrem Anspruch im Klageverfahren mangels Schlüssigkeit unterliegen müßte (vgl. zum Stand der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Mitte 1980 auch das Senatsurteil vom 20. Februar 1990 - XI ZR 195/88, WM 1990, 534, 537).
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b) Nicht zu folgen ist dem Berufungsgericht dagegen in der Erwägung, die weitere Ausnutzung des nicht in einer gegen § 826 BGB verstoßenden Weise erlangten Titels sei deshalb als sittenwidrig anzusehen, weil dem Gläubiger bereits so viel zugeflossen sei, daß jede weitere Vollstreckung das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletze.
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aa) Das angefochtene Urteil knüpft zu Unrecht an eine Formulierung des III. Zivilsenats in seiner Grundsatzentscheidung vom 24. September 1987 (BGHZ 101, 380) an, aus der sich ergeben soll, daß es für die Annahme einer sittenwidrigen Ausnutzung des erwirkten Titels ausreicht, wenn "dem Titelgläubiger aus dem sittenwidrigen Titel bereits so viel zugeflossen" ist, "daß jede weitere Vollstreckung das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletzt". Der III. Zivilsenat hat an jener Stelle (BGHZ aaO S. 386) nicht auf die Höhe des bisher aus dem Titel Erlangten abgestellt, sondern in einer theoretischen Überlegung ausgeführt, von dem als Voraussetzung für die Anwendung des § 826 BGB grundsätzlich zu fordernden Vorliegen zusätzlicher besonderer Umstände könne allenfalls in Extremfällen abgesehen werden, wenn die materielle Unrichtigkeit des Titels aufgrund der Sittenwidrigkeit bereits so eindeutig und so schwerwiegend ist, daß jede Vollstreckung allein schon deswegen das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletzen würde. Daß ein solcher Extremfall der materiellen Unrichtigkeit nicht bereits bei einer Überschreitung des Marktzinses um rund 120% gegeben ist, liegt auf der Hand. Der III. Zivilsenat hat in einem Beschluß vom 29. September 1988 (III ZR 171/88, ZIP 1989, 89) einen Extremfall im Sinne des genannten Urteils sogar bei einer relativen Überschreitung des Marktzinses um 160,45% verneint.
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bb) Das Berufungsgericht folgt mit seinen Darlegungen vielmehr einer vom Bundesgerichtshof bisher nicht behandelten Ansicht, die mit unterschiedlichem Ansatz und divergierenden Ergebnissen in der Literatur und in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten wird. Danach ist im Bereich der Ratenkredite eine besondere Fallgruppe der Ausnutzung eines unrichtigen Titels anzuerkennen, in der der Gläubiger aus einem unrichtigen, aber nicht erschlichenen Titel über einen angemessenen Betrag hinaus vollstreckt. Die Ausnutzung des Titels über diesen Betrag hinaus stellt sich nach dieser Ansicht als Realisierung des sittenwidrigen Gewinns dar (vgl. Schmelz, Verbraucherkredit Rdn. 646f. und Hopt/Müller, Kreditrecht § 607 Rdn. 319, jeweils m.w.Nachw.).
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Dieser Ansicht ist nicht zu folgen.
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Sie müßte, da sie nicht auf die Besonderheiten des Mahnverfahrens abstellt, Geltung für jede Art von Vollstreckungstiteln beanspruchen. Ihre Anerkennung würde unter Durchbrechung der materiellen Rechtskraft die vom Ansatz her schrankenlose Überprüfung auch von auf streitiger Verhandlung beruhenden Urteilen eröffnen und unter dem Gesichtspunkt einer Begrenzung der Vollstreckungsmöglichkeit ihre nachträgliche Korrektur ermöglichen. Damit würde unter einseitiger Berufung auf das Gebot der Einzelfallgerechtigkeit nicht nur der allgemein anerkannte Grundsatz aufgegeben, daß die Anwendung des § 826 BGB auf rechtskräftige Titel auf besonders schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben muß, weil jede Ausdehnung das Institut der Rechtskraft aushöhlen, die Rechtssicherheit beeinträchtigen und den Eintritt des Rechtsfriedens in untragbarer Weise in Frage stellen würde (vgl. BGHZ 101, 380, 383f. m.umfangr. Nachw.). Es würde darüber hinaus ein Anreiz geschaffen, rechtskräftig entschiedene Prozesse im Wege einer Klage auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung und Herausgabe des Titels neu aufzurollen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BGH, Urteil vom 22. Dezember 1987 - VI ZR 165/87, WM 1988, 228, 230). Was für die Erwirkung materiell falscher Titel gilt, kann nicht für ihre Ausnutzung relativiert werden. In beiden Fällen bedarf es zusätzlicher besonderer Umstände, um die Vollstreckung als sittenwidrig erscheinen zu lassen. Die Tatsache, daß der Gläubiger aus einem nicht erschlichenen falschen rechtskräftigen Titel im Wege der Zwangsvollstreckung mehr erhält, als ihm bei materiell richtiger Entscheidung zustünde, ist eine Folge des sich aus dem Rechtsstaatsgebot ergebenden Grundsatzes der Beständigkeit unanfechtbarer gerichtlicher Entscheidungen, kann also für sich allein nicht als mit dem Gerechtigkeitsgedanken unvereinbar angesehen werden. Dem Urteil des III. Zivilsenats vom 15. Dezember 1988 - III ZR 195/87 (WM 1989, 170) läßt sich nichts anderes entnehmen. Dort wird nur klargestellt, daß selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 826 BGB jedenfalls bis zur Höhe des dem Gläubiger zustehenden Bereicherungsanspruchs vollstreckt werden darf.
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Die Höhe des im vorliegenden Fall vom Kläger gezahlten Gesamtbetrages ist eine Folge der langen Dauer der Kreditabwicklung und damit der Rechtskraft des Vollstreckungsbefehls. Sie kann deshalb kein besonderer Umstand sein, der die weitere Vollstreckung als unerträglich erscheinen ließe.
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