Persönlicher Eindruck von den Zeugen in der Beweisaufnahme - Vernehmung durch den ersuchten Richter in der Berufungsinstanz
Orientierungssatz
1.Die Zivilprozeßordnung geht, wie die Einrichtungen des beauftragten und ersuchten Richters zeigen, zwar davon aus, daß das erkennende Gericht eine Beweiswürdigung auch dann vornehmen darf, wenn es die Beweisaufnahme nicht selbst durchgeführt hat. Die Grundsätze der freien Beweiswürdigung (ZPO § 286) und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gebieten es aber, daß das Gericht bei seiner Entscheidung nur das berücksichtigen darf, was auf der Wahrnehmung aller an der Entscheidung beteiligten Richter beruht oder aktenkundig ist und wozu die Parteien sich zu erklären Gelegenheit hatten. Es ist allgemein anerkannt, daß nur unter diesen Voraussetzungen der persönliche Eindruck, den ein Zeuge bei der Beweisaufnahme gemacht hat, von dem Prozeßgericht zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen herangezogen werden kann (so auch BGH, 1966-11-07, II ZR 188/65, VersR 1967, 25).
2. Bei einer vom beauftragten oder ersuchten Richter durchgeführten Beweisaufnahme geschieht die Verwertung der Aussagen - wie im Falle des Richterwechsels - im Wege des Urkundenbeweises durch Auswertung des Protokolls. Eindrücke, die ausschließlich der vernehmende Richter bei der Beweisaufnahme gewonnen, aber nicht in der Niederschrift vermerkt hat, dürfen deshalb bei der Entscheidung keine Rolle spielen. Nur die Protokollierung ermöglicht es den Parteien, zu den vom Einzelrichter gewonnenen Eindruck Stellung zu nehmen.
3. Läßt das Berufungsgericht die Zeugen - die nach dem in der Beweisaufnahme gewonnenen persönlichen Eindruck des erstinstanzlichen Gerichts Persönlichkeitsbilder zeigten, die von "mangelndem Urteilsvermögen, leichter Beeinflußbarkeit und nicht unerheblicher Oberflächlichkeit geprägt" seien - lediglich durch den Berichterstatter als Einzelrichter nochmals vernehmen, so darf das Gericht der Beurteilung der Glaubwürdigkeit nicht den - in der Vernehmungsniederschrift nicht festgehaltenen - persönlichen Eindruck des vernehmenden Einzelrichters zugrundelegen, die Zeugen hätten durchweg einen "offenen und gutmütig/ehrlichen Eindruck" gemacht.



vorgehend OLG München 19. Zivilsenat, 6. April 1989, 19 U 6522/87
Vergleiche BFH 1. Senat, 30. April 2003, I B 120/02

Tatbestand
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Der Kläger verlangt vom Beklagten zu 6, der als Telefonverkäufer für die Beklagte zu 1 Kunden zum Ankauf von Warenterminoptionen warb, Schadensersatz, weil dieser ihn in betrügerischer Absicht zu Vertragsabschlüssen veranlaßt habe. Hilfsweise macht er aus abgetretenem Recht Schadensersatz aus gleichgelagerten Warenterminoptionsgeschäften geltend.
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Das Landgericht hat nach Vernehmung von Zeugen die Klage abgewiesen, da der Beklagte zu 6 (im folgenden: Beklagter) die Warenterminoptionsgeschäfte zwar marktschreierisch angepriesen, aber nicht unlauter gehandelt habe. Das Berufungsgericht hat - nachdem der Berichterstatter als Einzelrichter die Beweisaufnahme wiederholt hatte - der Klage im schriftlichen Verfahren stattgegeben.
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Mit der Revision verfolgt der Beklagte seinen Klagabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist begründet.
I.
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1. Das Berufungsgericht hält die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB für gegeben: Der Beklagte habe den Kläger über maßgebliche Umstände der Warenterminoptionsgeschäfte getäuscht und ihn dadurch geschädigt. Nach dem Beweisergebnis habe er aufgrund einer Reihe von falschen Angaben beim Kläger ein unrichtiges Bild über die abgeschlossenen Geschäfte vermittelt und falsche Vorstellungen über die Gewinnaussichten erweckt. Das Gericht halte die Aussagen der vernommenen Zeugen für richtig. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es sich dabei um die Ehefrau des Klägers und im übrigen ausschließlich um Geschädigte handele, die ihre Ansprüche gegen eine Beteiligung von 10 oder 20% der eingehenden Gelder an den Kläger abgetreten hätten, erschienen "die Zeugen dem Senat nicht unglaubwürdig". Sie hätten "durchweg einen offenen, gutmütig/ehrlichen Eindruck" gemacht.
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2. Mit Recht rügt die Revision, daß das Berufungsgericht seiner Entscheidung einen verfahrensfehlerhaft festgestellten Sachverhalt zugrunde gelegt hat.
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a) Das Landgericht hatte die vom Kläger für seine Darstellung benannten - am Ausgang des Rechtsstreits selbst interessierten - Zeugen nach dem in der Beweisaufnahme gewonnenen persönlichen Eindruck in der Weise charakterisiert, daß sie "sämtlich Persönlichkeitsbilder zeigten, die von mangelndem Urteilsvermögen, leichter Beeinflußbarkeit und nicht unerheblicher Oberflächlichkeit geprägt sind". Das Berufungsgericht hat die Zeugen lediglich durch den Berichterstatter als Einzelrichter nochmals vernehmen lassen. Es durfte deshalb der Beurteilung der Glaubwürdigkeit nicht den - in den Vernehmungsniederschriften nicht festgehaltenen - persönlichen Eindruck zugrunde legen, die Zeugen hätten durchweg einen offenen gutmütig/ehrlichen Eindruck gemacht.
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b) Die Zivilprozeßordnung geht, wie die Einrichtungen des beauftragten und ersuchten Richters zeigen, zwar davon aus, daß das erkennende Gericht eine Beweiswürdigung auch dann vornehmen darf, wenn es die Beweisaufnahme nicht selbst durchgeführt hat. Die Grundsätze der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gebieten es aber, daß das Gericht bei seiner Entscheidung nur das berücksichtigen darf, was auf der Wahrnehmung aller an der Entscheidung beteiligten Richter beruht oder aktenkundig ist und wozu die Parteien sich zu erklären Gelegenheit hatten (vgl. BGHZ 53, 245, 257). Es ist allgemein anerkannt, daß nur unter diesen Voraussetzungen der persönliche Eindruck, den ein Zeuge bei der Beweisaufnahme gemacht hat, von dem Prozeßgericht zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen herangezogen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 1966 - II ZR 188/65, VersR 1967, 25, 26; BGHZ 32, 233, 237; RG JW 1933, 2215; 1938, 2767 und 2981; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 285 Rdn. 7).
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Bei einer vom beauftragten oder ersuchten Richter durchgeführten Beweisaufnahme geschieht die Verwertung der Aussagen - wie im Falle des Richterwechsels (vgl. BGHZ 53, 245, 257) - im Wege des Urkundenbeweises durch Auswertung des Protokolls. Eindrücke, die ausschließlich der vernehmende Richter bei der Beweisaufnahme gewonnen, aber nicht in der Niederschrift vermerkt hat, dürfen deshalb bei der Entscheidung keine Rolle spielen. Nur die Protokollierung ermöglicht es den Parteien, zu dem vom Einzelrichter gewonnenen Eindruck Stellung zu nehmen. - Hätte der Berichterstatter im vorliegenden Fall seinen Eindruck, daß die Zeugen offen, gutmütig und ehrlich wirkten, in das Terminsprotokoll aufgenommen, so hätte das den Beklagten veranlassen können, auf eine Vernehmung der Zeugen durch den Senat zu dringen und einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu widersprechen.
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c) Der Verfahrensfehler wird deshalb nicht dadurch ausgeräumt, daß das Berufungsgericht sich auch sachlich mit dem Aussageinhalt auseinandergesetzt und darauf verwiesen hat, daß es für die der Berufungsentscheidung noch zugrunde gelegten Bekundungen auf Urteilsvermögen, Erkenntnisfähigkeit und Interesse der Zeugen nicht ankomme. Selbst wenn man diese Erwägungen für sich genommen als rechtsfehlerfrei ansehen könnte, beruhten sie auf der verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen Überzeugung, daß die Zeugen nach dem in der Beweisaufnahme gewonnenen Eindruck glaubwürdig seien.
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3. Da das angefochtene Urteil bereits wegen dieses wesentlichen Verfahrensverstoßes keinen Bestand hat, kann offen bleiben, ob auch andere mit der Revision erhobene formelle Rügen durchgreifen oder ob ihnen die Vorschrift des § 295 Abs. 1 ZPO entgegensteht. Eines Eingehens auf die materiell- rechtlichen Angriffe gegen die Berufungsentscheidung bedarf es nicht; die rechtliche Würdigung des Verhaltens des Beklagten hängt wesentlich von den durch den Tatrichter neu zu treffenden tatsächlichen Feststellungen ab. Das Berufungsgericht wird Gelegenheit haben, sich dabei mit den von der Revision erhobenen Einwänden auseinanderzusetzen.
II.
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Auf die Revision des Beklagten war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zu anderweiter Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Der Senat hat dabei von der Befugnis des § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
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