Vertragsauslegung: Vorrang des übereinstimmenden Parteiwillens gegenüber dem anderslautenden Wortlaut
Orientierungssatz
Bei der Auslegung von Verträgen ist der übereinstimmende Wille der Parteien allein entscheidend, auch wenn der Vertrag nach dem eindeutigen Wortlaut oder sonstigen Auslegungskriterien anders auszulegen wäre. Bei der Auslegung von Willenserklärungen ist nämlich generell der wirkliche Wille der Vertragspartner zu erforschen. Der Wortlaut ist nicht allein entscheidend.


vorgehend LG Zwickau, 15. Dezember 1994, HKO 23/94

Wolfgang Bosch, WiB 1997, 45-46 (Anmerkung)
Tenor
Auf die Revision des Beklagten zu 2) wird das Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 12. Juli 1995 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung des Beklagten zu 2) zurückgewiesen wurde.
In diesem Umfang wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Klägerin nimmt den Beklagten zu 2) aus einer mit "Schuldversprechen und Zahlungsvereinbarung" überschriebenen Urkunde in Anspruch. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
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Die Klägerin, eine Herstellerin alkoholfreier Getränke, belieferte die inzwischen aus dem Rechtsstreit ausgeschiedene Beklagte zu 1), eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die den Handel mit Getränken betreibt und deren Geschäftsführer der Beklagte zu 2) ist. Dabei kam es zu erheblichen Zahlungsrückständen der Beklagten zu 1).
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Am 6. Oktober 1992 fand eine Unterredung zwischen dem Beklagten zu 2) und dem für die Klägerin handelnden Zeugen Dr. G. statt, innerhalb derer der Beklagte zu 2) die genannte, ihm von Dr. G. vorgelegte Urkunde unterzeichnete. Die Urkunde bestand aus einem vorgedruckten Text mit zahlreichen handschriftlichen Ergänzungen. Sie enthielt die Feststellung, daß die Beklagte zu 1) der Klägerin 3.168.883,61 DM schuldete, und ein Schuldversprechen des Beklagten zu 2) zugunsten der Klägerin über diesen Betrag sowie eine Ratenzahlungsvereinbarung zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu 2).
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Die Klägerin hat beide Beklagten als Gesamtschuldner auf Zahlung eines Restbetrags von 514.745,89 DM nebst Zinsen aus dem in der Urkunde genannten Schuldbetrag sowie die Beklagte zu 1) auf Zahlung weiterer Beträge verklagt. Daraufhin haben die Beklagten die Erklärung in der Urkunde wegen Irrtums und wegen arglistiger Täuschung angefochten.
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Das Landgericht hat durch Teilurteil beide Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 514.745,89 DM verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Beklagte zu 2) seinen Klagabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
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Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit dieses den Beklagten zu 2) beschwert, und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
- 7
Das Berufungsgericht bejaht einen Zahlungsanspruch der Klägerin gegen den Beklagten zu 2) aus der Urkunde vom 6. Oktober 1992. Zur Begründung führt es im wesentlichen aus:
- 8
Die genannte Urkunde enthalte im Verhältnis des Beklagten zu 2) zur Klägerin ein Schuldversprechen im Sinne von § 780 BGB. Aufgrund des Wortlauts der Urkunde sei nämlich eindeutig, daß der Beklagte zu 2) der im ersten Absatz des Vertrages anerkannten Schuld der Beklagten zu 1) beigetreten sei. Davon sei auszugehen, obwohl die von der Klägerin vorformulierte Urkunde insoweit zu Zweifeln Anlaß gebe, als darin die Pflicht zur Leistung wöchentlicher Ratenzahlungen von je 350.000 DM dem Beklagten zu 2) und nicht der Beklagten zu 1) auferlegt worden sei, und obwohl es dem Zeugen Dr. G. als Vertreter der Klägerin bei der Errichtung der Urkunde nicht auf eine persönliche Verpflichtung des Beklagten zu 2), sondern auf die ziffernmäßige Festschreibung der Verbindlichkeit der Beklagten zu 1) und auf eine schleunige Abtragung des Rückstands durch diese angekommen sei.
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Ein Irrtum des Beklagten zu 2) "dahin, daß er sich durch seine Erklärung vom 06.10.1992 nicht persönlich neben der Beklagten zu 1) gegenüber der Klägerin habe verpflichten wollen", erscheine nicht ausgeschlossen. Der Beklagte zu 2) habe jedoch die Anfechtungsfrist des § 121 Abs. 1 BGB versäumt. Da er durch die Zustellung der Klageschrift an die Beklagte zu 1) am 2. April 1994 von der Auslegung der Urkunde durch die Klägerin erfahren habe, sei bereits die Abgabe der Anfechtungserklärung im Schriftsatz vom 16. Mai 1994 verspätet gewesen. Es komme hinzu, daß dem Schriftsatz keine Doppel beigefügt gewesen und auch auf Anforderung durch das Landgericht nicht übersandt worden seien, weshalb erst auf eine Verfügung des Vorsitzenden der landgerichtlichen Kammer für Handelssachen vom 6. Juni 1994 Abschriften des Schriftsatzes gefertigt und an die Klägervertreter übersandt worden seien. Damit sei die Frist des § 121 Abs. 1 BGB offensichtlich verfehlt.
II.
- 10
Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung in entscheidenden Punkten nicht stand.
- 11
1. Das Berufungsgericht ist, wie die Revision mit Recht rügt, unter Verstoß gegen anerkannte Auslegungsgrundsätze zu dem Ergebnis gelangt, der Beklagte zu 2) sei im Wege eines Schuldversprechens der Schuld der Beklagten zu 1) beigetreten. Der Wortlaut der Urkunde vom 6. Oktober 1992 ist in dieser Hinsicht zwar eindeutig. Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einer Willenserklärung jedoch der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Bei der Auslegung von Verträgen geht daher nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein übereinstimmender Wille der Parteien dem Wortlaut des Vertrages und jeder anderweitigen Interpretation vor (BGHZ 71, 75, 77 f; 124, 64, 68; BGH, Urteil vom 20. Januar 1994 - VII ZR 174/92 = WM 1994, 551, 553; jeweils m.w.Nachw.) und setzt sich auch gegenüber einem völlig eindeutigen Vertragswortlaut durch (BGHZ 124, 64, 68).
- 12
Im vorliegenden Fall wäre daher trotz eindeutigen Wortlauts der Vertragsurkunde eine eigene Verbindlichkeit des Beklagten zu 2) zu verneinen, wenn er und der für die Klägerin handelnde Zeuge Dr. G. das Schriftstück mit der übereinstimmenden Absicht unterzeichnet hätten, lediglich die Verbindlichkeit der Beklagten zu 1) festzuschreiben und eine Regelung für die ratenweise Rückführung dieser Schuld zu treffen. In diese Richtung deuten zahlreiche Umstände. Zu ihnen zählt die Feststellung des Berufungsgerichts, daß es dem Zeugen Dr. G. auf eine persönliche Verpflichtung des Beklagten zu 2) nicht angekommen sei und er mit dem Vertragsabschluß beabsichtigt habe, die Verbindlichkeit der Beklagten zu 1) ziffernmäßig festzuschreiben und diese zur Abtragung des Rückstands zu veranlassen. In die gleiche Richtung weist die vom Berufungsgericht als nicht ausgeschlossen angesehene Möglichkeit, daß der Beklagte zu 2) mit seiner Erklärung vom 6. Oktober 1992 keine eigene Verbindlichkeit habe eingehen wollen. Auch die vom Berufungsgericht mit Recht für sinnwidrig gehaltene Regelung in der Vertragsurkunde, wonach nicht die Beklagte zu 1), sondern der Beklagte zu 2) zur wöchentlichen Ratenzahlung in Höhe von 350.000 DM verpflichtet sein sollte, spricht dafür, daß der Wortlaut der Urkunde nicht dem Willen ihrer Unterzeichner entsprach. Eine Erklärung für ein so weites Auseinanderklaffen von Urkundeninhalt und wirklichem Willen der Unterzeichner könnte schließlich in der Art des Zustandekommens der Urkunde liegen. Das Schriftstück war von keinem der beiden Unterzeichner, sondern von einer Hilfskraft während laufender Vertragsverhandlungen durch handschriftliche Bearbeitung eines vorgedruckten Textes erstellt, sodann noch in der entscheidenden Besprechung unterschrieben worden und war durch das Zusammenspiel von vorformuliertem Text und handschriftlichen Einfügungen, Änderungen und Streichungen recht unübersichtlich geworden.
- 13
Nach alledem durfte das Berufungsgericht sich bei seiner Auslegung nicht allein auf den Wortlaut der Vertragsurkunde stützen, sondern hätte die Frage prüfen müssen, ob die tatsächliche Willensübereinstimmung der Unterzeichner einen vom Text des Schriftstücks abweichenden Inhalt hatte.
- 14
2. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht auch eine Überprüfung der von ihm angenommenen Verpflichtung des Beklagten zu 2) am Maßstab des § 3 AGBG unterlassen.
- 15
a) Der Vertrag vom 6. Oktober 1992 fällt in den Anwendungsbereich des AGB-Gesetzes. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht sein Text überwiegend aus einem von der Klägerin vorformulierten Vordruck. Dessen Charakter als für eine Vielzahl von Verträgen bestimmte Vertragsbedingung umfaßt auch den Schuldbeitritt des Beklagten zu 2), weil der Schuldbeitritt bereits im Vordruck vorgesehen war und nur noch durch Einsetzen des Namens und des Schuldbetrags vervollständigt werden mußte. Derartige unselbständige Ergänzungen stellen die Anwendbarkeit des AGB-Gesetzes nicht in Frage (Senatsurteil vom 3. Dezember 1991 - XI ZR 77/91 = WM 1992, 50, 51 m.w.Nachw.).
- 16
b) Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand läßt sich nicht ausschließen, daß der Teil der Urkunde vom 6. Oktober 1992, der eine persönliche Verpflichtung des Beklagten zu 2) begründen sollte, für diesen überraschend im Sinne des § 3 AGBG war. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts waren die Zahlungsrückstände der Beklagten zu 1) Anlaß der Besprechung vom 6. Oktober 1992; dabei kam es dem Verhandlungsführer der Klägerin auf eine persönliche Verpflichtung des Beklagten zu 2) nicht an; seine Absicht ging vielmehr dahin, die Verbindlichkeit der Beklagten zu 1) festzuschreiben und diese zur Abtragung des Rückstands zu veranlassen. Nach der vom Berufungsgericht pauschal in Bezug genommenen Aussage des Zeugen Dr. G. wurde ein möglicher Schuldbeitritt des Beklagten zu 2) in der Besprechung vom 6. Oktober 1992 auch nicht erörtert.
- 17
Nach alledem könnte am 6. Oktober 1992 eine Situation bestanden haben, in der der in der Vertragsurkunde vorgesehene Schuldbeitritt des Beklagten zu 2) für diesen überraschend im Sinne des § 3 AGBG war. Entscheidend kommt es in diesem Zusammenhang darauf an, ob der Beklagte zu 2) bei der Unterzeichnung der Urkunde tatsächlich nicht bemerkt hat, daß er damit eine eigene Verbindlichkeit eingehen sollte. Das Berufungsgericht hat in anderem Zusammenhang einen dahingehenden Irrtum des Beklagten zu 2) für nicht ausgeschlossen gehalten, diese Frage aber letztlich offen gelassen.
III.
- 18
Das angefochtene Urteil mußte daher, soweit es den Beklagten zu 2) beschwert, aufgehoben werden.
- 19
1. Der Senat konnte nicht in der Sache selbst entscheiden, weil zu den oben erörterten rechtlichen Gesichtspunkten noch weitere tatsächliche Feststellungen erforderlich sind und weil der Rechtsstreit entgegen der Ansicht der Revision auch unter dem Gesichtspunkt des § 11 Nr. 14 Buchstabe a AGBG nicht zur Entscheidung reif ist. Die genannte Vorschrift, auf die der Beklagte zu 2) sich erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat berufen hat, ist auf den Formularvertrag vom 6. Oktober 1992 nicht anwendbar.
- 20
§ 11 Nr. 14 Buchstabe a AGBG erklärt Klauseln für unwirksam, durch die der Verwender einem Vertreter, der den Vertrag für den anderen Vertragsteil abschließt, ohne hierauf gerichtete ausdrückliche und gesonderte Erklärung eine eigene Haftung oder Einstandspflicht auferlegt. Die Vorschrift beschränkt ihren Schutz auf denjenigen, der nur als Vertreter auftritt, und bezieht den nicht ein, der seinerseits selbst als Vertragspartner im eigenen Namen, wenn auch neben dem Vertretenen, mit dem Verwender abschließt (BGHZ 104, 95, 100).
- 21
Im vorliegenden Fall weist die Vertragsurkunde vom 6. Oktober 1992 den Beklagten zu 2) nicht ausschließlich als Vertreter der Beklagten zu 1), sondern als eigenständigen Vertragspartner neben dieser aus. So nennt der Einleitungssatz beide Beklagten nebeneinander als Vertragspartner der Klägerin. Vom übrigen Vertragstext ist der überwiegende Teil der Rechtsbeziehung zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu 2) gewidmet. Unterschrieben hat der Beklagte zu 2) die Urkunde, ohne zum Ausdruck zu bringen, daß er als Vertreter der Beklagten zu 1) auftrat.
- 22
2. Die Sache mußte daher im Umfang der Aufhebung des Berufungsurteils an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. Für die erneute Entscheidung des Berufungsgerichts wird es darauf ankommen, ob sich ein Abweichen der tatsächlichen Einigung der Parteien von dem Text der Vertragsurkunde oder das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 AGBG feststellen läßt.
- 23
Sollte dies nicht der Fall sein, so kann der Beklagte zu 2) sich auf seine Anfechtung im Schriftsatz vom 16. Mai 1994 nicht berufen. Diese Anfechtung war nämlich, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, verspätet. Da der Beklagte zu 2) nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts bereits am 2. April 1994 von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erhalten hatte, war schon die Abgabe der Anfechtungserklärung im Schriftsatz vom 16. Mai 1994 nicht mehr rechtzeitig. Darüber hinaus ist dem Berufungsgericht auch darin zuzustimmen, daß erst recht der Zugang der Anfechtungserklärung mit der Zustellung von Abschriften dieses Schriftsatzes an die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin nach dem 6. Juni 1994 nicht mehr unverzüglich im Sinne des § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB war; auf § 121 Abs. 1 Satz 2 BGB kann der Beklagte zu 2) sich schon deshalb nicht berufen, weil diese Vorschrift auf prozessuale Schriftsätze, die nur auf dem Umweg über das Gericht zum Gegner gelangen, keine Anwendung findet (BGH, Urteil vom 11. Oktober 1974 - V ZR 25/73 = NJW 1975, 39; vgl. auch BGH, Urteil vom 21. Oktober 1981 - VIII ZR 212/80 = WM 1981, 1302).
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