Überprüfbarkeit einer das rechtliche Gehör verletzenden Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz
Gegen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht auch dann keine Beschwerdemöglichkeit, wenn der Anspruch der Gegenseite auf rechtliches Gehör verletzt wurde. Das Gericht ist in diesem Fall jedoch nicht an seine Entscheidung gebunden und kann sie - jedenfalls auf Gegenvorstellungen und solange noch kein die Instanz abschließendes Urteil ergangen ist - einer Überprüfung unterziehen.















vorgehend LG München I, 17. Mai 1994, 28 O 7179/93




Tenor
Die sofortige Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluß des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 9. Februar 1995 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Beschwerdewert: 38.838,13 DM.
Gründe
I.
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1. Der Beklagte wurde in erster Instanz durch Versäumnisurteil zur Zahlung von 38.838,13 DM nebst Zinsen verurteilt. Das Versäumnisurteil wurde durch Urteil vom 17. Mai 1994, das dem Beklagtenvertreter am 20. Mai 1994 zugestellt wurde, bestätigt. Die Berufung des Beklagten ging erst am 21. Juni 1994 bei Gericht ein.
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2. Der Beklagte beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und trug folgendes vor:
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Nachdem die Berufungsschrift bereits am 16. Juni 1994 gefertigt und von seinem Prozeßvertreter unterschrieben worden sei, sei sie von dessen Anwaltsgehilfin in das für die Gerichtspost bestimmte Ablagefach der Kanzlei gelegt worden. Am 20. Juni 1994 sei die Anwaltsgehilfin unerwartet erkrankt und nicht zum Dienst erschienen. Der Beklagtenvertreter habe zwar die im Terminkalender eingetragene Berufungsfrist bemerkt, sei aber angesichts des Schreibdatums der Berufungsschrift vom 16. Juni 1994 der irrtümlichen Meinung gewesen, daß diese bereits bei Gericht eingereicht worden sei. Deshalb habe er die in einem verschlossenen Umschlag befindliche Berufungsschrift erst am 21. Juni 1994 zusammen mit anderen Sachen bei Gericht abgegeben.
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3. Der zunächst mit der Sache befaßte 32. Zivilsenat des Berufungsgerichts gab am 12. Juli 1994 den Wiedereinsetzungsantrag zur Stellungnahme an die Klägerin hinaus und beschloß am gleichen Tage, dem Antrag stattzugeben. Die Klägerin legte dagegen außerordentliche Beschwerde ein und rügte die Verletzung rechtlichen Gehörs.
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Nachdem der 32. Zivilsenat des Berufungsgerichts im Hinblick auf die längere Erkrankung eines Senatsmitglieds entlastet worden war, gab er das Verfahren an den nunmehr zuständig gewordenen 15. Zivilsenat ab. Dieser hob mit Beschluß vom 9. Februar 1995 den Beschluß des 32. Zivilsenats vom 12. Juli 1994 auf, wies den Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück und verwarf die Berufung des Beklagten als verspätet.
II.
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Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Beklagten ist nach § 238 Abs. 2, § 519 b Abs. 2, § 547 ZPO zulässig, bleibt in der Sache jedoch ohne Erfolg.
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1. Durch die Unanfechtbarkeit des Beschlusses des 32. Zivilsenats des Berufungsgerichts vom 12. Juli 1994 (§ 238 Abs. 3 ZPO) war der 15. Zivilsenat entgegen der Ansicht des Beklagten nicht gehindert, die Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Das folgt daraus, daß die Klägerin vor dem Erlaß dieses Beschlusses keine Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten hatte und dadurch ihr Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden war.
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a) Grundsätzlich sind die Gerichte allerdings an Beschlüsse, durch die sie einer Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt haben, in entsprechender Anwendung des § 318 ZPO gebunden (BGH, Beschlüsse vom 5. Februar 1954 - I ZB 12/53 = NJW 1954, 880 und vom 7. April 1993 - XII ZR 244/91 = FamRZ 1993, 1191; MünchKomm-ZPO/Feiber § 238 Rdn. 13). Dieser Grundsatz bedarf jedoch in Fällen, in denen die Entscheidung unter Verletzung des Anspruchs der Gegenseite auf rechtliches Gehör ergangen ist, der Einschränkung.
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Eine außerordentliche Beschwerdemöglichkeit besteht zwar auch in solchen Fällen entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts regelmäßig nicht (BGH, Beschluß vom 27. September 1990 - III ZB 34/90 = BGHR, ZPO vor § 1/Rechtsmittel - Gesetzwidrigkeit, greifbare 9; Zöller/Greger, 19. Aufl., ZPO § 238 Rdn. 6; a.M. OLG Frankfurt/Main JurBüro 1981, 302, 303; Feiber aaO Rdn. 15; Stein/Jonas/Roth, 21. Aufl., ZPO § 238 Rdn. 13). Die Eröffnung im Gesetz nicht vorgesehener oder sogar ausdrücklich ausgeschlossener weiterer Instanzen muß im Interesse der Rechtssicherheit auf gerichtliche Entscheidungen beschränkt bleiben, die "greifbar gesetzwidrig" in dem Sinne sind, daß sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehren und inhaltlich dem Gesetz fremd sind. Ein Verstoß gegen die Grundsätze über das rechtliche Gehör reicht dafür regelmäßig nicht aus (BGH, Urteil vom 19. Oktober 1989 - III ZR 111/88 = NJW 1990, 838, 840 m.w.Nachw.; Beschluß vom 27. September 1990 aaO).
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Das schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, daß ein Gericht auf Gegenvorstellungen des Betroffenen das versäumte rechtliche Gehör nachholt und seine eigene Entscheidung einer erneuten Überprüfung unterzieht. Eine solche Möglichkeit der Selbstkorrektur ist für den Bereich des Strafprozesses in § 33a StPO gesetzlich anerkannt und wird vom Bundesverfassungsgericht für alle Fachgerichtsbarkeiten befürwortet (BVerfGE 73, 322, 329 = NJW 1987, 1319, 1320) sowie für das Verwaltungsprozeßrecht vom Bundesverwaltungsgericht bejaht (Beschluß vom 22. November 1993 = NJW 1994, 674). Für das Gebiet des Zivilprozeßrechts hat der Bundesgerichtshof die Frage für Beschlüsse über die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausdrücklich offengelassen (Beschluß vom 7. April 1993 aaO). Mehrere Instanzgerichte halten bei grundsätzlich unabänderlichen Beschlüssen auf die Verletzung rechtlichen Gehörs gestützte Gegenvorstellungen für zulässig (OLG Nürnberg NJW 1979, 169; OLG Frankfurt/Main NJW 1986, 1052; OLG Düsseldorf MDR 1988, 681, 682; OLG Karlsruhe MDR 1993, 289, 290). Gleicher Ansicht ist die überwiegende Meinung im Schrifttum (Stein/Jonas/Grunsky, 21. Aufl., ZPO § 567 Rdn. 28; Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 53. Aufl., ZPO Übers. § 567 Rdn. 6; Zöller/Gummer, ZPO, 19. Aufl., § 567 Rdn. 22 ff.; Weis NJW 1987, 1314 f.; jeweils m.w.Nachw.; a.M. MünchKomm-ZPO/Braun vor § 567 Rdn. 8).
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b) Der erkennende Senat bejaht für Wiedereinsetzungsbeschlüsse, die unter Verstoß gegen die Grundsätze über das rechtliche Gehör ergangen sind, die Möglichkeit einer gerichtlichen Selbstkorrektur jedenfalls während des Zeitraums, in dem noch kein die betreffende Instanz abschließendes Urteil ergangen ist. Diese Durchbrechung der Bindung der Gerichte an eigene Wiedereinsetzungsbeschlüsse ist gerechtfertigt, weil solche Beschlüsse im Falle einer Verletzung des rechtlichen Gehörs auf Verfassungsbeschwerde aufgehoben werden (BVerfGE 61, 14, 16 = NJW 1982, 2234) und damit letztlich keine Bestandskraft entfalten. Durch die Zulassung der Selbstkorrektur wird den Beteiligten der Umweg über das Bundesverfassungsgericht und dem Bundesverfassungsgericht die zusätzliche Belastung mit vermeidbaren Verfassungsbeschwerden erspart.
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Die Frage, ob die zulässige Selbstkorrektur nur auf Gegenvorstellungen der von der Nichtgewährung rechtlichen Gehörs betroffenen Partei oder auch von Amts wegen (vgl. § 33a StPO sowie BVerwG aaO) geschehen kann, braucht hier nicht entschieden zu werden. Die Klägerin ist nämlich mit dem Antrag an das Berufungsgericht herangetreten, die Wiedereinsetzung des Beklagten in den vorigen Stand rückgängig zu machen. Der Umstand, daß sie dieses Begehren in Verkennung der Rechtslage als Beschwerde bezeichnet hat und der Umdeutung in eine Gegenvorstellung ausdrücklich entgegengetreten ist, ist unschädlich, weil jede einfache Beschwerde der Sache nach eine Gegenvorstellung mit umfaßt (Braun aaO Rdn. 5).
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Da der Beschluß des Berufungsgerichts über die Wiedereinsetzung des Beklagten in den vorigen Stand unter Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör ergangen war, war das Berufungsgericht befugt, die Entscheidung auf Initiative der Klägerin einer erneuten Überprüfung zu unterziehen. Diese Überprüfung durfte und mußte der inzwischen zuständig gewordene 15. Zivilsenat des Berufungsgerichts anstelle des ursprünglich zuständigen 32. Zivilsenats vornehmen. Die in dem angegriffenen Beschluß des 15. Zivilsenats für die Zuständigkeitsänderung genannten Gründe halten sich im Rahmen des nach § 21e Abs. 3 GVG Zulässigen. Der Beklagte hat seine Ansicht, es liege eine verfassungswidrige Umgehung des gesetzlichen Richters vor, nicht durch den Vortrag von Tatsachen substantiiert, die einen solchen Vorwurf plausibel machen könnten.
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Die Überprüfung des Wiedereinsetzungsbeschlusses durch den 15. Zivilsenat des Berufungsgerichts wurde nicht dadurch unzulässig, daß dieser irrig von der Zulässigkeit einer außerordentlichen Beschwerde ausging und seinen Beschluß vom 9. Februar 1995 unzutreffend in die Form einer Beschwerdeentscheidung kleidete.
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2. Der angegriffene Beschluß vom 9. Februar 1995 ist auch in der Sache zutreffend. Das Berufungsgericht hat dem Beklagten zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert und seine Berufung als verspätet verworfen. Der Beklagte, der sich nach § 85 Abs. 2 ZPO ein Verschulden seines Prozeßvertreters wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muß, hat nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, daß den Prozeßvertreter im Zusammenhang mit der Versäumung der Berufungsfrist kein Verschulden trifft.
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Es ist allgemein anerkannt, daß einem Rechtsanwalt im Fall der Erkrankung seines Büropersonals erhöhte eigene Sorgfaltspflichten obliegen (Zöller/Greger, ZPO, 19. Aufl., § 233 Rdn. 23 "Büropersonal" m.w.Nachw.). Im vorliegenden Fall durfte der Prozeßvertreter des Beklagten, nachdem seine Anwaltsgehilfin am 20. Juni 1994, dem letzten Tag der Berufungsfrist, wegen Krankheit ausgefallen war und er die im Terminkalender eingetragene Berufungsfrist bemerkt hatte, sich nicht allein aufgrund des Schreibdatums der Berufungsschrift vom 16. Juni 1994 darauf verlassen, daß diese bereits bei Gericht eingereicht worden sei. Der Beklagte hat nicht vorgetragen, daß sein Prozeßvertreter über das reine Schreibdatum hinaus irgendwelche Vermerke seiner Anwaltsgehilfin über die Absendung der Berufungsschrift vorgefunden hätte. Dem Prozeßvertreter des Beklagten gereicht es daher zum Verschulden, daß er am 20. Juni 1994 keine weiteren Schritte unternommen hat, um die Einhaltung der Berufungsfrist sicherzustellen.
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