Äquivalenzprüfung des in Niedrigzinsperiode langfristig gewährten Konsumentenratenkredits ohne Zinsanpassungsklausel: Vergleichszinsberechnung; tolerierte relative Überschreitung
Leitsatz
1. Bei Ratenkrediten, die in einer Niedrigzinsphase langfristig ohne Zinsanpassungsklausel gewährt worden sind, ist ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung im Regelfall erst dann zu bejahen, wenn der effektive Vertragszins den aufgrund des Schwerpunktzinses berechneten Vergleichszins um mehr als 110% übersteigt.
Orientierungssatz
1. Zitierung: Weiterentwicklung BGH, 1989-11-09, III ZR 108/88, WM IV 1990, 57.













vorgehend LG München I, 29. Dezember 1988, 27 O 16408/88





... mehrHerberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB
● Nassall, 8. Auflage 2017, § 138 BGB
● Tonner, 8. Auflage 2017, § 481 BGB
Tatbestand
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Die Klägerin gewährte im Herbst 1977 dem Beklagten zu 1), der damals sein Monatsnettogehalt als Steueramtsmeister mit 1.524 DM bezifferte, einen Ratenkredit, für dessen Rückzahlung der Beklagte zu 2) später teilweise die Garantie übernahm.
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Der Darlehensantrag vom 29. September 1977 enthielt folgende Angaben:
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Beantragter Kredit 35.000 DM
Versicherung, Kosten, Auslagen 700 DM
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Nettokredit 35.700 DM
+ Kreditgebühr für 120 Monate 0,8% p.Mt. 34.272 DM
2% Antragsgebühr + 5 DM 719 DM
Restschuldversicherung 5.400 DM
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Der Gesamtbetrag von 76.091 DM
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sollte ab 1. November 1977 in einer ersten Rate von 645 DM und 119 Folgeraten von je 634 DM gezahlt werden. Der effektive Jahreszins war im Darlehensantrag mit 20,21% p.a. angegeben.
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Der Antrag auf Abschluß einer Risikolebensversicherung wurde von der Versicherungsgesellschaft mit Schreiben vom 28. Dezember 1977 "aus versicherungsmedizinischen Gründen" abgelehnt. Der Beklagte zu 1) leistete trotzdem zunächst die Raten in der vereinbarten Höhe weiter. In ihrer Abrechnung zur Klagebegründung hat die Klägerin die 5.400 DM Versicherungskosten vom Bruttokreditbetrag abgesetzt.
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Im April 1984 stellte der Beklagte zu 1) seine Zahlungen an die Klägerin ein und berief sich darauf, der Kreditvertrag sei gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Die Klägerin lehnte eine vergleichsweise Regelung ab und stellte ihre Gesamtforderung im Dezember 1984 fällig. Mit der - 1988 erhobenen - Klage hat sie unter Berücksichtigung der damals bereits erbrachten Leistungen des Beklagten zu 1) in Höhe von 47.419,90 DM noch Zahlung von 26.697,48 DM verlangt. Diese Klagesumme setzt sich aus 11.697,70 DM Restkapital und den Zinsen für die Zeit bis zum 31. Mai 1988 zusammen; ab 1. Juni 1988 hat die Klägerin außerdem 13% Zinsen von 11.697,70 DM begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 23.244,36 DM nebst den verlangten Zinsen verurteilt und festgestellt, daß die Hauptsache im übrigen - wegen der zwischenzeitlichen weiteren Zahlungen - erledigt sei. Mit der zugelassenen Revision erstreben die Beklagten die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
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Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Das angefochtene Urteil mußte aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen die Klageabweisung zurückgewiesen werden.
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I. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf Darlehensrückzahlung bejaht und zur Begründung ausgeführt: Der Ratenkreditvertrag vom 29. September 1977 sei nicht sittenwidrig, weil es an einem auffälligen Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung fehle. Bei der Berechnung des effektiven Vertragszinses für den Wertvergleich seien die Kosten der beantragten Restschuldversicherung von der Gesamtschuldsumme abzuziehen, ohne daß es darauf ankomme, daß der Versicherungsvertrag später nicht zustande gekommen sei. Der sich danach ergebende Vertragszins von 17,44% übersteige zwar den aufgrund des Schwerpunktzinses errechneten Vergleichszins von 7,42% absolut um 10,02%, relativ um 142,22% (rechnerisch richtig: 135,04%). Da es aber um einen langfristigen Kredit aus einer ausgesprochenen Niedrigzinsperiode gehe, könne der damalige Schwerpunktzins von 0,32% wegen des erhöhten Zinssteigerungsrisikos nicht unverändert für die Berechnung des Marktzinses herangezogen werden, sondern müsse um 0,2% auf 0,52% erhöht werden; dieser Zinssatz entspreche einem Mittelwert aufgrund der Entwicklung des Schwerpunktzinses seit 1976, also auch für die hier vereinbarte Kreditlaufzeit. Danach ergebe sich ein Marktzins von 11,46%; der Vertragszins übersteige ihn absolut nur noch um 5,98%, relativ um 52,18%. Dieser Unterschied reiche für eine Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB nicht aus.
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II. Das angefochtene Urteil hält der rechtlichen Überprüfung im entscheidenden Punkt nicht stand.
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1. Das Berufungsgericht befindet sich zwar in Übereinstimmung mit der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum wucherähnlichen Konsumentenratenkredit, wenn es ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung als objektive Voraussetzung des § 138 Abs. 1 BGB bejahen will, falls der effektive Vertragszins den marktüblichen Effektivzins relativ um rund 100% übersteigt (Senatsurteile vom 20. Februar 1990 - XI ZR 195/88 = WM 1990, 534 und vom 13. März 1990 - XI ZR 252/89 = WM 1990, 669 = BGHZ 110, 336, jeweils m.w.Nachw.). Auch seine Berechnung des Vertragszinses mit 17,44% entspricht - rechtlich wie mathematisch - der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 104, 102; Urteil vom 24. März 1988 - III ZR 24/87 = NJW 1988, 1661). Die Revision macht insoweit nur geltend, die Restschuldversicherungskosten hätten, da sie von der Klägerin trotz Ablehnung des Versicherungsantrages weiterhin, bis zur Klageerhebung, geltend gemacht worden seien, als "verdeckte Zinszahlung" gewertet und in die Effektivzinsberechnung einbezogen werden müssen. Über diesen Einwand braucht nicht entschieden zu werden, da es darauf im Ergebnis nicht ankommt: Schon der vom Berufungsgericht berechnete Vertragszins von 17,44% war so überhöht, daß die Voraussetzungen des § 138 Abs. 1 BGB bejaht werden müssen.
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2. Abzulehnen ist nämlich die Auffassung des Berufungsgerichts, der Berechnung des Vergleichszinses sei nicht der Schwerpunktzins der Bundesbankstatistik für den Zeitpunkt des Vertragsschlusses zugrunde zu legen, sondern ein um 0,2% p.M. erhöhter Satz.
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Im Ansatz berechtigt ist allerdings die Auffassung des Berufungsgerichts, bei Ratenkrediten, die in einer Niedrigzinsperiode langfristig ohne Zinsänderungsvorbehalt gewährt worden sind, müsse das erhöhte Zinsänderungsrisiko bei der Prüfung, ob ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorliege, zugunsten der Bank berücksichtigt werden. Das hat auch der Bundesgerichtshof schon in seinem - bei Erlaß des Berufungsurteils noch nicht veröffentlichten - Urteil vom 9. November 1989 (III ZR 108/88 = WM 1990, 57) anerkannt und einen im Dezember 1978 gewährten Ratenkredit mit einer Laufzeit von 144 Monaten für wirksam erachtet, obwohl der effektive Vertragszins den aufgrund des Schwerpunktzinses von 0,32% berechneten Vergleichszins relativ um 101,49% überstieg. Der damalige Fall unterschied sich aber vom vorliegenden nicht nur durch die erheblich niedrigere Zinsdifferenz und die längere Laufzeit, sondern auch dadurch, daß der Marktzins im Zeitpunkt der damaligen Kreditgewährung bereits wieder zu steigen begonnen hatte, während er im September 1977, bei Hingabe des jetzt streitigen Kredits, noch nicht seinen tiefsten Stand erreicht hatte und ein erneuter Zinsanstieg noch nicht in Sicht war.
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Wie weit es auf solche Unterschiede ankommt, ist im zitierten BGH-Urteil vom 9. November 1989 noch nicht entschieden worden. Es ist ausdrücklich offen geblieben, ob den Besonderheiten langfristiger, in einer Niedrigzinsphase gewährter Ratenkredite durch einen Zuschlag zum Schwerpunktzins (bzw. einen Abzug vom Vertragszins) oder dadurch Rechnung zu tragen ist, daß in solchen Fällen eine weitergehende relative Überschreitung hingenommen wird als bei Verträgen mit kürzeren Laufzeiten oder aus Phasen mit höherem Marktzins.
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Die Begründung, mit der das Berufungsgericht - der ersten Alternative folgend - den Schwerpunktzins um 0,2% auf 0,52% monatlich erhöht, ist nicht tragfähig. Sie stellt auf den Mittelwert der Schwerpunktzinssätze während der Laufzeit des Darlehens ab. Die Grundlagen für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB müssen aber im Zeitpunkt des Vertragsschlusses feststehen und erkennbar sein (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 1983 - III ZR 114/82 = NJW 1983, 2692). Die spätere Entwicklung kann nicht zur Begründung herangezogen werden, selbst wenn sie inzwischen, im Zeitpunkt der Entscheidung, bekannt ist.
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Um einen Wertmaßstab für besonders langfristige Kredite zu finden, ließe sich allenfalls die Frage stellen, wie der Markt zur Zeit der Kreditgewährung die künftige Zinsentwicklung eingeschätzt hat und in welchem Umfang auch andere Banken deswegen damals bereits höhere Zinsen forderten, wenn sie überhaupt so langfristige Ratenkredite gewährten. Darüber gibt es jedoch keine zeitnahen statistischen Erhebungen. Nachträglich lassen sich im einzelnen Zivilprozeß mit vertretbarem Aufwand keine verläßlichen Feststellungen treffen. Im Berufungsurteil wird mit Recht ausgeführt, es bereite kaum lösbare Schwierigkeiten, in jedem Einzelfall Markterhebungen durchzuführen; dabei sei ein einheitlicher zuverlässiger Vergleichsmaßstab nicht zu erwarten. Das Berufungsgericht hat es deswegen auch abgelehnt, ein Sachverständigengutachten zur Frage des Zinsvergleichs einzuholen. Diese Ablehnung hat die klagende Bank in der Revisionserwiderung ausdrücklich gebilligt.
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Als einziger Vergleichsmaßstab, der auf allgemeinen, ständig zeitnah durchgeführten statistischen Erhebungen beruht, steht der Schwerpunktzins der Bundesbank zur Verfügung. An ihm als Ausgangspunkt für die Sittenwidrigkeitsprüfung ist auch bei langfristigen Ratenkrediten grundsätzlich festzuhalten. Deren Besonderheiten können bei der wertenden Prüfung berücksichtigt werden, in welchem Maße der Vertragszins den aus dem Schwerpunktzins entwickelten Effektivzins übersteigen darf. Mit dem in der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, daß der Vertragszins rund das Doppelte dieses Vergleichszinses betragen darf, wird ohnehin keine starre Grenze bestimmt, sondern nur ein Richtwert. Schon bei einem relativen Zinsunterschied von nur 90% bejaht die Rechtsprechung daher regelmäßig ein auffälliges Mißverhältnis, wenn den Kreditnehmer außerdem auch noch andere Vertragsbedingungen in erheblichem Maße unbillig belasten (BGHZ 104, 102, 105). Es erscheint dem erkennenden Senat angemessen, einen entsprechenden Wertungsspielraum auch nach oben zu eröffnen, wenn den besonderen Umständen eines in einer Niedrigzinsphase langfristig gewährten Kredits Rechnung getragen werden muß. In solchen Fällen kann also auch eine relative Überschreitung des Vergleichszinses um bis zu 110% noch hingenommen werden; erst bei einem noch größeren Zinsunterschied ist im Regelfall ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung zu bejahen. Die Zinsforderung der Klägerin überschritt hier diese Grenze erheblich. Das Landgericht hat daher im Ergebnis zu Recht die Voraussetzungen des § 138 Abs. 1 BGB bejaht und die Klage abgewiesen, weil der Beklagte zu 1) bereits weit mehr an die Klägerin gezahlt hat, als diese aus § 812 BGB zu fordern berechtigt war.
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