Zum Umfang der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht
Orientierungssatz
1. Hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers nach Erörterung der Sach- und Rechtslage im Termin keinen Antrag gestellt und ein Versäumnisurteil gegen den Kläger ergehen lassen und ist dann das Vorbringen in der Einspruchsschrift immer noch nicht hinreichend substantiiert, ist das Gericht schon mit Rücksicht auf ZPO § 340 Abs 3 nicht verpflichtet, auf weiteren Vortrag hinzuwirken.
2. Es kann nach ZPO § 139 geboten sein, auch den anwaltlich vertretenen Kläger darauf hinzuweisen, daß sein Klagevorbringen nicht substantiiert und deshalb nicht schlüssig sei, und daß ihm dann Gelegenheit gegeben werden muß, seinen Sachvortrag zu ergänzen. Ein entgegenstehender allgemeiner Grundsatz für den Anwaltsprozeß läßt sich insbesondere dem Urteil des VIII. Zivilsenats vom 1983-11-09, VIII ZR 349/82, NJW 1984, 310 nicht entnehmen. Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen aus jüngster Zeit eine Verpflichtung zu Hinweisen auch gegenüber der anwaltlich vertretenen Partei dann bejaht, wenn der Prozeßbevollmächtigte der substantiierungspflichtigen Partei ersichtlich darauf vertraut, daß sein schriftsätzlicher Vortrag ausreichend ist (vergleiche BGH, 1988-05-05, I ZR 179/86, BGHR ZPO § 139 Substantiierung 1 und BGH, 1988-11-10, VII ZR 272/87, BGHR ZPO § 139 Abs 1 Anwaltsprozeß 2).



vorgehend LG Bonn, 25. Juni 1987, 13 O 267/85
So auch BGH 1. Zivilsenat, 5. Mai 1988, I ZR 179/86
Abgrenzung BGH 8. Zivilsenat, 9. November 1983, VIII ZR 349/82
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 26. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 4. Mai 1988 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Der Kläger hatte sich an verschiedenen gewerblichen Unternehmen beteiligt und zahlreiche Immobilien erworben. Dabei war er hohe Verbindlichkeiten eingegangen. Als die Einnahmen aus seiner beruflichen Tätigkeit als Zahnarzt und die Erträge aus den Anlageobjekten nicht ausreichten, die Verbindlichkeiten zu erfüllen, und er in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, ließ er sich vom Beklagten wirtschaftlich beraten. Er übertrug ihm die Verwaltung seines Wohnungseigentums und beauftragte ihn, verlustbringende Immobilien zu veräußern. Der Beklagte übernahm es auch, für den Kläger Verhandlungen zu führen, u.a. mit Kreditinstituten und Versicherungsgesellschaften. - Nachdem sich die vom Kläger erhobene Stufenklage in erster Instanz erledigt hat, ist Gegenstand des Rechtsstreit nur noch die Widerklage, mit der der Beklagte Vergütungsansprüche dafür geltend macht, daß er für den Kläger zahlreiche Verhandlungen geführt, Vollstreckungsmaßnahmen abgewehrt und Stundungs- und Ratenzahlungsvereinbarungen sowie Schuldumschaffungen herbeigeführt habe.
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Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 21. April 1986 vor dem Landgericht hat der Prozeßbevollmächtigte des Beklagten nach Erörterung der Sach- und Rechtslage den Widerklageantrag nicht gestellt. Auf Antrag des Klägers wurde daraufhin durch Teilversäumnisurteil die Widerklage abgewiesen. Dagegen hat der Beklagte fristgerecht Einspruch eingelegt. Das Landgericht hat das Teilversäumnisurteil aufrechterhalten, da die Widerklage schon nach dem eigenen Vorbringen des Beklagten unbegründet sei; denn der Beklagte habe die Grundlagen für seine Honorarberechnung weder dem Grunde noch der Höhe nach hinreichend dargelegt. Das Berufungsgericht hat das Urteil einschließlich des ihm zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Mit der Revision, deren Zurückweisung der Beklagte beantragt, erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
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Die - zulässige (BGHZ 31, 358, 361) - Revision ist begründet.
I.
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Das Berufungsgericht ist in Übereinstimmung mit dem Landgericht der Auffassung, daß das Vorbringen des Beklagten in erster Instanz nicht hinreichend substantiiert war, um den geltend gemachten Widerklageanspruch als schlüssig anzusehen. Nach seiner Ansicht hat aber das Verfahren des ersten Rechtszuges an einem wesentlichen Verfahrensfehler gelitten (§ 539 ZPO), weil das Landgericht es unterlassen habe, den Beklagten auf den notwendigen Darlegungsumfang rechtzeitig während des Verfahrens hinzuweisen.
II.
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Dagegen wendet sich die Revision mit Erfolg.
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Für die Aufhebung des Verfahrens im ersten Rechtszuge und die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht gemäß § 539 ZPO fehlt die gesetzliche Grundlage. Ein Verfahrensfehler ist dem Landgericht nicht unterlaufen.
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Das Berufungsgericht hat gemeint, das Landgericht habe die ihm obliegende Aufklärungspflicht gemäß § 139 ZPO verletzt. Das trifft indessen nicht zu.
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a) Das Berufungsgericht geht allerdings zutreffend davon aus, es könne nach § 139 ZPO geboten sein, auch den anwaltlich vertretenen Kläger darauf hinzuweisen, daß sein Klagevorbringen nicht substantiiert und deshalb nicht schlüssig sei, und daß ihm dann Gelegenheit gegeben werden muß, seinen Sachvortrag zu ergänzen. Ein entgegenstehender allgemeiner Grundsatz für den Anwaltsprozeß läßt sich insbesondere dem Urteil des VIII. Zivilsenats vom 9. November 1983 - VIII ZR 349/82 (NJW 1984, 310 mit ablehnender Anm. Deubner; vgl. auch die ablehnende Anm. Peters JZ 1984, 191) nicht entnehmen. Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen aus jüngster Zeit (Urteile vom 5. Mai 1988 - I ZR 179/86, BGHR ZPO § 139 - Substantiierung 1 und vom 10. November 1988 - VII ZR 272/87, BGHR ZPO § 139 Abs. 1 - Anwaltsprozeß 2) eine Verpflichtung zu Hinweisen auch gegenüber der anwaltlich vertretenen Partei dann bejaht, wenn der Prozeßbevollmächtigte der substantiierungspflichtigen Partei ersichtlich darauf vertraut, daß sein schriftsätzlicher Vortrag ausreichend ist.
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b) Keines weiteren Hinweises durch das Gericht bedarf es dagegen in den Fällen, in denen - wie im vorliegenden Rechtsstreit - von einem solchen Vertrauen offensichtlich nicht ausgegangen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 31. Oktober 1986 - V ZR 61/80, NJW 1987, 1142, 1143). Der Beklagte war vom Kläger schriftsätzlich mehrfach darauf hingewiesen worden, daß sein pauschaler Sachvortrag zur Widerklage nicht hinreichend substantiiert sei. Danach hat das Landgericht im Verhandlungstermin am 21. April 1986 mit den Parteien die Sach- und Rechtslage erörtert, was den Anwalt des Beklagten veranlaßte, in diesem Termin zur Widerklage keinen Antrag zu stellen und ein Versäumnisurteil gegen den Beklagten ergehen zu lassen. Dieses Verhalten und die ergänzenden Ausführungen zur Widerklage in der Einspruchsschrift zeigen, daß er sich seinerzeit der Unschlüssigkeit der Widerklage bewußt war. Wenn das Vorbringen in der Einspruchsschrift immer noch nicht hinreichend substantiiert war, war das Landgericht schon mit Rücksicht auf die Regelung des § 340 Abs. 3 ZPO nicht verpflichtet, auf weiteren Vortrag hinzuwirken.
III.
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Da das Landgericht die Widerklage verfahrensfehlerfrei abgewiesen hat, durfte das Berufungsgericht nicht nach § 539 ZPO vorgehen. Die Sache muß daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
- 11
Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden. Die Voraussetzungen des § 565 Abs. 3 ZPO liegen entgegen der Ansicht der Revision nicht vor. Das Berufungsgericht hat eine Entscheidung in der Sache nicht getroffen. Das würde den Senat zwar nicht hindern, die im Berufungsurteil zum Ausdruck kommende Auffassung, daß die Widerklage nunmehr schlüssig begründet ist, revisionsrechtlich zu überprüfen (BGHZ 31, 358, 365) und gegebenenfalls die Widerklage als unschlüssig abzuweisen. Voraussetzung dafür wäre indessen, daß jede Möglichkeit, in prozessual zulässiger Weise weiteren Sachvortrag einzuführen, ausscheidet (BGH, Urteile vom 27. November 1957 - IV ZR 198/57, LM ZPO § 565 Abs. 3 Nr. 5, vom 28. April 1959 - VI ZR 104/58, LM aaO Nr. 7 und vom 31. Oktober 1986 - V ZR 61/80, NJW 1987, 1142, 1143). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Ob das bisherige und etwaiges neues Vorbringen zur Widerklage zuzulassen oder als verspätet zurückzuweisen ist, hat zunächst das Berufungsgericht - gegebenenfalls nach Prüfung einer etwaigen Entschuldigung - zu entscheiden. Dabei wird es Gelegenheit haben, die der Bejahung einer schlüssigen Widerklagebegründung zugrundegelegte Rechtsauffassung in der Sache selbst einer Prüfung unter Berücksichtigung der Revisionsangriffe zu unterziehen.
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