Annahme besonderer Umstände hinsichtlich der Durchbrechung der Rechtskraft eines 1981/82 erwirkten, auf sittenwidrigem Ratenkreditvertrag beruhenden Vollstreckungsbescheids
Orientierungssatz
1. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung anzunehmen, wenn der Vertragszins relativ rund doppelt so hoch ist wie der Marktzins; diese Überschreitung hat jedoch nur Richtwertfunktion: Eine relative Zinsdifferenz zwischen 90% und 100% rechtfertigt die Anwendung des BGB § 138 Abs 1, wenn für den Kreditnehmer belastende sonstige Umstände hinzukommen (vergleiche BGH, 1988-03-04, III ZR 24/87, WM IV 1988, 647).
2. Die materielle Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels (und die im Prozeß erworbene subjektive Kenntnis davon) reicht nicht aus, um die Vollstreckung als sittenwidrig anzusehen; insbesondere genügen die Umstände, aus denen sich die Unrichtigkeit des Titels ergibt, in der Regel nicht, um die Sittenwidrigkeit der Vollstreckung zu begründen; die besonderen Umstände müssen zur Unrichtigkeit des Titels hinzutreten.
3. Solche Umstände können vorliegen, wenn der Gläubiger einen Vollstreckungsbescheid über den Anspruch aus einem sittenwidrigen Ratenkredit erwirkt hat, obwohl er nach dem damaligen Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Ratenkrediten erkennen konnte, daß der aus dem Kreditvertrag hergeleitete Anspruch bei Geltendmachung im Wege der Klage bereits an der gerichtlichen Schlüssigkeitsprüfung hätte scheitern müssen (vergleiche BGH, 1989-11-02, III ZR 144/88, WM IV 1990, 391) (hier: Sittenwidrigkeit der Vollstreckung aus einem zur Jahreswende 1981/82 erwirkten Vollstreckungsbescheid abgelehnt, weil der zugrundeliegende Ratenkreditvertrag eine Zinsdifferenz von 98% aufwies und das Gewicht der zu beanstandenden Klauseln in den Kreditbedingungen 1981/82 nur schwer zu bestimmen war).



vorgehend LG Kiel, 8. Mai 1992, 9 O 85/91



Vergleiche BGH 3. Zivilsenat, 24. März 1988, III ZR 24/87
Tatbestand
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Die Beklagte gewährte den Klägern am 27. Juni 1979 einen Ratenkredit zu folgenden Bedingungen:
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Darlehensbetrag 8.000,00 DM
Bearbeitungsgebühr 170,00 DM
Kosten für die Restschuldversicherung 259,20 DM
Kreditgebühren (0,8% p.M.) 3.039,38 DM
-----------
Gesamtsumme: 11.468,58 DM
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Der Kredit sollte ab August 1979 in einer Rate von 263,58 DM und 45 weiteren Monatsraten von 249 DM zurückgezahlt werden.
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Als die Kläger, die bis Juli 1981 nur 4.377,68 DM auf ihre Ratenverpflichtungen gezahlt hatten, mit weiteren Zahlungen in Verzug kamen, stellte die Beklagte den Kredit fällig und erwirkte am 7. Dezember 1981/13. Januar 1982 Mahn- und Vollstreckungsbescheide über je 7.424,89 DM (nebst Zinsen), die rechtskräftig geworden sind.
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Die Kläger leisteten danach noch weitere Zahlungen, die nach ihrer Behauptung unter Einbeziehung der Zahlungen bis Juli 1981 insgesamt 13.234,87 DM betrugen.
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Die Kläger wenden sich gegen die Zwangsvollstreckung aus den Vollstreckungsbescheiden. Sie sind der Ansicht, daß der Darlehensvertrag sittenwidrig sei und die Beklagte deshalb nach § 826 BGB die Zwangsvollstreckung aus den Vollstreckungsbescheiden zu unterlassen und die Titel herauszugeben habe; außerdem begehren sie Rückzahlung eines nach ihrer Ansicht überzahlten Betrags.
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Die Beklagte hält den Darlehensvertrag für wirksam und macht außerdem geltend, es fehle an besonderen Umständen, die zur Unrichtigkeit eines Titels hinzukommen müßten, damit die Vollstreckung unzulässig werde.
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Das Landgericht hat der Klage im wesentlichen stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klagabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist begründet.
I.
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Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Kläger gegen die Beklagte auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus den rechtskräftigen Vollstreckungsbescheiden und Herausgabe der Titel sowie auf Rückzahlung der behaupteten Überzahlung nach § 826 BGB bejaht und dazu ausgeführt:
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Der zwischen den Parteien abgeschlossene Ratenkreditvertrag sei nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Zwischen Leistung und Gegenleistung bestehe ein auffälliges Mißverhältnis, da der Vertragszins den damaligen Marktzins um 98,98% überschreite; eine Gesamtwürdigung der Kreditbedingungen rechtfertige die Vermutung, daß die Beklagte die schwächere Lage der Kläger ausgenutzt habe. Die damit begründete Unrichtigkeit der Titel sei der Beklagten durch das vorliegende Verfahren bekannt geworden.
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Die besonderen Umstände, die eine Vollstreckung aus den Titeln sittenwidrig machten, lägen darin, daß die Beklagte sich durch Wahl des Mahnverfahrens einer Prüfung der Schlüssigkeit ihres Anspruchs entzogen habe, die für sie auch nach dem damaligen Stand der Rechtsprechung hätte negativ ausgehen müssen. Insofern habe sie auch zumindest mit bedingtem Schädigungsvorsatz gehandelt.
II.
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Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
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1. Nach gefestigter Rechtsprechung muß die Rechtskraft eines materiell unrichtigen Titels zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgebot schlechthin unvereinbar wäre, daß der Titelgläubiger seine Rechtsstellung unter Mißachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt. Eine solche Anwendung des § 826 BGB muß jedoch auf besonders schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben, weil sonst die Rechtskraft ausgehöhlt, die Rechtssicherheit beeinträchtigt und der Rechtsfrieden in Frage gestellt würde (vgl. BVerfG NJW 1993, 1125 m.w.Nachw.). Solche Ausnahmefälle sind in der Rechtsprechung zum Konsumentenkredit unter der Voraussetzung bejaht worden, daß der Vollstreckungstitel materiell unrichtig ist, dem Titelgläubiger die Unrichtigkeit bekannt ist und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund deren es dem Gläubiger zugemutet werden muß, die ihm zugefallene Rechtsposition aufzugeben (Senatsurteil vom 23. April 1991 - XI ZR 122/90 - WM 1991, 1180, 1181 m.Nachw.).
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2. Dieser Rechtsprechung folgend hat das Berufungsgericht geprüft, ob die Vollstreckungsbescheide deshalb materiell unrichtig sind, weil ihnen ein sittenwidriger Konsumentenkredit zugrunde liegt (vgl. BGHZ 112, 54, 56 f. m.Nachw.). Dabei ist es zutreffend davon ausgegangen, daß bei der Feststellung des von ihm angenommenen Mißverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung die heutigen und nicht die im Zeitpunkt des Abschlusses des Kreditvertrages vorhandenen Erkenntnisse der Rechtsprechung zugrunde zu legen sind (vgl. BGHZ 101, 380, 385; BGH, Urteil vom 18. Januar 1990 - III ZR 26/89 - WM 1990, 421). Es hat deshalb bei der Errechnung des Vertragszinses richtig die Kosten der Restschuldversicherung vernachlässigt und bei der Errechnung des Marktzinses als Bearbeitungsgebühr den seinerzeit üblichen Satz von 2% der Kreditsumme angesetzt (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 1988 - III ZR 24/87 - WM 1988, 647, 648). Danach überschreitet der Vertragszins den Marktzins um 98,98%.
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Nach ständiger Rechtsprechung ist ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung anzunehmen, wenn der Vertragszins relativ rund doppelt so hoch ist wie der Marktzins; diese Überschreitung hat jedoch nur Richtwertfunktion: Eine relative Zinsdifferenz zwischen 90% und 100% rechtfertigt die Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB, wenn den Kreditnehmer belastende sonstige Umstände hinzukommen (BGH, Urteil vom 24. März 1988 aaO und Urteil vom 16. November 1989 - III ZR 162/88 - WM 1990, 393, 394).
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Im vorliegenden Fall betrug der von der Beklagten verlangte Vertragszins fast das Doppelte dessen, was ein Ratenkreditnehmer im Juni 1979 bei anderen Anbietern durchschnittlich hätte zahlen müssen. Hinzu kommt auch, daß die weiteren Bedingungen des Kreditvertrages unangemessene und den Kreditnehmer unbillig belastende Regelungen enthalten, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat.
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Ob das Berufungsgericht aus diesen Gründen entgegen der Ansicht der Revision zu Recht die Nichtigkeit des Ratenkredits wegen Sittenwidrigkeit angenommen hat, kann dahingestellt bleiben, weil "besondere Umstände" fehlen, die eine Durchbrechung der Rechtskraft nach § 826 BGB rechtfertigen.
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3. Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß neben einer materiellen Unrichtigkeit eines Vollstreckungstitels besondere Umstände vorliegen müssen, um die Durchbrechung der Rechtskraft zu rechtfertigen; es hat solche Umstände aber zu Unrecht angenommen.
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a) Die materielle Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels (und die im Prozeß erworbene subjektive Kenntnis davon) reicht nicht aus, um die Vollstreckung als sittenwidrig anzusehen; insbesondere genügen die Umstände, aus denen sich die Unrichtigkeit des Titels ergibt, in der Regel nicht, um die Sittenwidrigkeit der Vollstreckung zu begründen; die besonderen Umstände müssen zur Unrichtigkeit des Titels hinzutreten (BGHZ 101, 380, 385 ff.).
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Solche Umstände können vorliegen, wenn der Gläubiger einen Vollstreckungsbescheid über den Anspruch aus einem sittenwidrigen Ratenkredit erwirkt hat, obwohl er nach dem damaligen Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Ratenkrediten erkennen konnte, daß der aus dem Kreditvertrag hergeleitete Anspruch bei Geltendmachung im Wege der Klage bereits an der gerichtlichen Schlüssigkeitsprüfung hätte scheitern müssen (BGH, Urteil vom 2. November 1989 - III ZR 144/88 - WM 1990, 391, 392; Senatsurteil vom 28. April 1992 - XI ZR 193/91 - WM 1992, 977, 978).
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Die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte habe zur Zeit ihres Antrags auf Erlaß der Vollstreckungsbescheide um die Jahreswende 1981/1982 nach dem Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Ratenkrediten erkennen können, daß ihr Anspruch in einer Schlüssigkeitsprüfung scheitern würde, ist nicht zutreffend. Der heutige Richtwert von 100% war damals noch nicht Inhalt höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. etwa BGHZ 80, 153, 158 ff.). Soweit das Berufungsgericht darauf hinweist, daß in den Jahren 1979/1980 in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (Urteile vom 11. Januar 1979 - III ZR 119/77, NJW 1979, 808 und vom 10. Juli 1980 - III ZR 177/78, NJW 1980, 2301) die Sittenwidrigkeit von Ratenkreditverträgen auch unterhalb dieses Richtwerts bejaht worden ist, übersieht es, daß es sich jeweils um Kredite aus Hochzinsphasen handelte und die absolute Überschreitung des Marktzinses bei 12 Prozentpunkten und mehr lag. Bei derartig hohen und absoluten Zinsdifferenzen gilt auch nach der neueren Rechtsprechung des Senats (BGHZ 110, 336) der Richtwert für die relative Überschreitung des Marktzinses nicht. Zu berücksichtigen ist ferner, daß das Gewicht zu beanstandender Klauseln in den Kreditbedingungen damals nur schwer bestimmbar war. Entsprechendes hat der Senat bereits für die Vollstreckung aus einem im Juli 1980 beantragten Vollstreckungsbescheid ausgeführt, dem ein Anspruch aus einem Kreditvertrag aus dem Jahre 1975 mit einer relativen Überschreitung des Marktzinses in Höhe von über 120% zugrunde lag (BGHZ 112, 54, 56 f.).
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b) Besondere Umstände können auch nicht mit der Begründung bejaht werden, die weitere Ausnutzung der Vollstreckungsbescheide verletze das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise, weil die Beklagte insgesamt bereits mehr erhalten habe, als ihr bei Beurteilung der Rechtslage, wie das Berufungsgericht sie vorgenommen hat, zustünde (vgl. BGHZ 112, 54, 57 f.).
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3. Da eine weitere Sachaufklärung nicht in Betracht kommt und der Rechtsstreit zur Endentscheidung reif ist (§ 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO), war die auf § 826 BGB gestützte Klage mit der Kostenfolge aus § 91 ZPO abzuweisen.
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