Beginn der Berufungsfrist bei fehlender Urteilszustellung, fehlender Terminsladung der Partei und deren Unkenntnis vom Rechtsstreit
Orientierungssatz
Eine Ausnahme von der Regel des ZPO § 516, wonach die Berufungsfrist von einem Monat mangels Urteilszustellung spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung beginnt, ist dann zuzulassen, wenn die beschwerte Partei im Verhandlungstermin nicht vertreten und zu diesem Termin nicht ordnungsgemäß geladen war, und auch keinen Anlaß hatte, sich um den Fortgang des Rechtsstreits zu kümmern, weil die an ihn gerichteten Ersatzzustellungen von zwei Versäumnisurteilen wegen der unrichtigen Zustellungsadresse unwirksam waren und er keine Kenntnis von dem Rechtsstreit hatte (so auch BGH, 1988-03-02, IVb ZB 10/88, NJW 1989, 1432).



vorgehend LG Hannover, 29. Januar 1991, 15 O 254/90
Abgrenzung BGH Senat für Landwirtschaftssachen, 18. November 2003, LwZB 1/03
Gründe
I.
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Am 29. Januar 1991 erließ das Landgericht H. ein zweites Versäumnisurteil gegen den Beklagten zu 3) (im folgenden: Beklagter) und seine zwei Brüder, in dem unter anderem der Einspruch des Beklagten gegen einen Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts H. vom 19. Juni 1990 über eine Forderung der Klägerin in Höhe von 19.285,01 DM nebst Zinsen - bis auf einen Teil der Zinsforderung - verworfen wurde. Zu der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 1991 war der Beklagte persönlich geladen worden. Die Ladung war an die Adresse M. Straße in L. gerichtet und wurde durch Niederlegung bei der Post zugestellt. Das zweite Versäumnisurteil wurde am 7. Februar 1991 unter derselben Adresse ebenfalls durch Niederlegung bei der Post zugestellt.
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Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 21. Juni 1993, der am gleichen Tag beim Oberlandesgericht C. einging, Berufung gegen das genannte Urteil eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, er sei daran gehindert gewesen, die Frist zur Berufungseinlegung wahrzunehmen, weil er bereits im Jahre 1988 aus L. verzogen sei und seitdem in E. wohne.
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Das Berufungsgericht hat Auskünfte der Einwohnermeldeämter in L. und E. sowie des Postamts in L. eingeholt. Mit Beschluß vom 1. November 1993 hat es den Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung des Beklagten verworfen.
II.
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Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Beklagten ist begründet. Die Berufungsfrist war noch nicht abgelaufen, als die Berufungsschrift des Beklagten am 21. Juni 1993 bei Gericht einging.
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1. Die Berufungsfrist des § 516 ZPO wurde durch die Zustellung des angegriffenen Urteils am 7. Februar 1991 nicht in Lauf gesetzt. Diese Zustellung war nämlich, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, unwirksam, weil sie nicht am Wohnort des Beklagten bewirkt wurde.
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2. Die Berufungsfrist begann entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch nicht mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung des zweiten Versäumnisurteils des Landgerichts am 29. Januar 1991. Die Regel des § 516 ZPO, wonach die Berufungsfrist von einem Monat mangels Urteilszustellung spätestens mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung beginnt, greift wegen der Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht ein.
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a) Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat in mehreren Entscheidungen Ausnahmen von der genannten Regel für den Fall zugelassen oder für möglich gehalten, daß die beschwerte Partei im Verhandlungstermin nicht vertreten und zu diesem Termin auch nicht ordnungsgemäß geladen war (BGH, Urteil vom 20. April 1977 - IV ZR 68/76 = LM § 88 ZPO Nr. 3; Beschluß vom 2. März 1988 - IVb ZB 10/88 = NJW 1989, 1432, 1433; ähnlich bereits RG JW 1938, 2982). Die Frage, ob diesen Entscheidungen uneingeschränkt zu folgen ist oder ob eine - im Gesetz nicht vorgesehene - Ausnahme von der Regel des § 516 ZPO sich nur dann rechtfertigen läßt, wenn die beschwerte Partei auch keinen Anlaß hatte, sich über den Fortgang des Rechtsstreits zu unterrichten (vgl. Rimmelspacher in Festschrift für Schwab, 1990, S. 421 ff. und in MünchKomm. ZPO § 516 Rdn. 18), kann hier offen bleiben. Im vorliegenden Fall war der Beklagte nämlich nicht nur in dem Verhandlungstermin vor dem Landgericht, in dem das zweite Versäumnisurteil erging, nicht vertreten und zu diesem Termin auch nicht ordnungsgemäß geladen. Es ist vielmehr darüber hinaus davon auszugehen, daß für ihn jedenfalls bis zum 7. Februar 1991 keine Veranlassung bestand, sich um den gegen ihn laufenden Prozeß zu kümmern. Das ergibt sich daraus, daß alle an ihn gerichteten Ersatzzustellungen wegen der unrichtigen Zustellungsadresse unwirksam waren und er nach seiner unwiderlegten Einlassung auch keine Kenntnis von dem Rechtsstreit hatte. Auf die Frage, ob er von dem gegen ihn ergangenen Mahnbescheid - Einspruch wurde für ihn "i.V." eingelegt - Kenntnis hatte, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Wer einen durch Einspruch abgewehrten Mahnbescheid kennt, kann zuwarten, ob die Gegenseite die Durchführung des streitigen Verfahrens betreibt, und braucht sich um weiteres nicht zu kümmern.
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b) Der Beklagte könnte allerdings, wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat, eine Ausnahme von den Regeln des § 516 ZPO nicht in Anspruch nehmen, wenn er am 7. Februar 1991 auf anderem Wege als durch eine ordnungsgemäße Zustellung von dem gegen ihn ergangenen zweiten Versäumnisurteil Kenntnis erlangt hätte. Das läßt sich indessen entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht feststellen.
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Der Beklagte bestreitet, am 7. Februar 1993 in L. gewesen zu sein und eine Sendung vom Postamt abgeholt zu haben. Aus den vom Berufungsgericht eingeholten Auskünften des Postamts L. vom 22. Juli 1993 und vom 4. Oktober 1993 geht nur hervor, daß ein namentlich nicht genannter Ausgabebeamter noch am 7. Februar 1991 einem ihm persönlich bekannten Y. die am gleichen Tag durch Niederlegung zur Post zugestellte Sendung mit der Ausfertigung des zweiten Versäumnisurteils ausgehändigt hat, wobei der Abholer sich gegenüber dem Beamten nicht auswies. Der Senat hat erhebliche Zweifel, ob der Abholer mit dem Beklagten identisch war. Diese Zweifel gründen sich auf die Häufigkeit des türkischen Namens Y. sowie auch darauf, daß es recht unwahrscheinlich erscheint, daß der Beklagte, der damals bereits seit Jahren aus L. verzogen war und nur noch gelegentlich besuchsweise dorthin kam, am Donnerstag, dem 7. Februar 1991, einem gewöhnlichen Arbeitstag, dort gewesen und dabei auch noch auf einen Ausgabebeamten des Postamts getroffen sein sollte, dem er persönlich bekannt war. Der Senat ist auch davon überzeugt, daß nach so langer Zeit keine zuverlässige Klärung der Frage mehr möglich ist, wem am 7. Februar 1991 die auf dem Postamt L. niedergelegte Sendung ausgehändigt wurde.
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