Zustellung an Anwalt: anwaltliche Willensentschließung als Zeitpunkt der bewirkten Zustellung
Leitsatz
1. Die Zustellung eines Urteils an einen Anwalt ist durch die Entgegennahme des Schriftstücks und die - allgemeinen Anweisungen des Rechtsanwalts entsprechende - Bearbeitung durch das Kanzleipersonal noch nicht bewirkt.
Orientierungssatz
1. Die Zustellung gem ZPO § 212a setzt die persönliche Beteiligung des Rechtsanwalts voraus. Durch die kanzleimäßige Bearbeitung (Fristsachen beim Posteingang aussortieren, mit einem Eingangsstempel versehen, in den Fristenkalender eintragen und zu den Handakten geben) wird nur der anwaltliche Gewahrsam begründet, aber nicht die weitergehende einzelfallabhängige Willensentschließung des Rechtsanwalts vorweggenommen, das in seinen Gewahrsam gelangte Schriftstück auch tatsächlich als zugestellt zu behandeln.













vorgehend LG Gießen, 27. November 1989, 2 O 302/89
Vergleiche BGH 12. Zivilsenat, 25. September 1991, XII ZB 98/91
Vergleiche BGH 7. Zivilsenat, 20. Juni 1991, VII ZR 11/91
Vergleiche BGH 12. Zivilsenat, 17. April 1991, XII ZB 40/91
Stefan Smid, NJ 1991, 79 (Anmerkung)
Susanne Schöpf, NJ 1991, 79 (Anmerkung)
Gründe
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I. Die Beklagte wurde durch Urteil des Landgerichts vom 27. November 1989 zu einer Geldzahlung verurteilt. Ihre erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten, die Rechtsanwälte U. und H., bestätigten die Zustellung des Urteils durch ein Empfangsbekenntnis. Darauf befinden sich ein Stempelaufdruck mit dem Datum des 14. Februar 1990 und die Unterschrift des Rechtsanwalts H.. Mit einem am 15. März 1990 eingegangenen Schriftsatz legte die Beklagte gegen das "am 15. Februar 1990 zugestellte" Urteil Berufung ein. Nachdem die Klägerin beantragt hatte, die Berufung der Beklagten wegen Verspätung als unzulässig zu verwerfen, teilte deren Bevollmächtigter durch Schriftsatz vom 8. Juni 1990 mit, daß die Datumsangabe auf dem Empfangsbekenntnis falsch sei. Er machte unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen geltend, daß Rechtsanwalt H. erst am 15. Februar 1990 das Urteil entgegengenommen und das Empfangsbekenntnis unterzeichnet habe. Letzteres müsse von der Angestellten A. am Vormittag des 15. Februar 1990 versehentlich mit dem Tagesstempel vom Vortage versehen worden sein. Durch Beschluß vom 4. Juli 1990 verwarf das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig und versagte der Beklagten gleichzeitig die vorsorglich begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist.
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Mit der sofortigen Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen die Verwerfung der Berufung.
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II. Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 519b Abs. 2, 547, 577 Abs. 2 ZPO) und begründet. Die Berufungsfrist ist nicht versäumt.
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1. Rechtlich zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß das von Rechtsanwalt H. unterschriebene Empfangsbekenntnis grundsätzlich den vollen Beweis für das darin genannte Datum der Zustellung erbringt, daß jedoch der Gegenbeweis zulässig ist (vgl. BGH, Beschluß vom 4. Dezember 1985 - IVb ZB 68/85 = VersR 1986, 371, 372; BGH, Urteil vom 17. Oktober 1986 - V ZR 8/86 = NJW 1987, 325; BGH, Urteil vom 25. Mai 1987 - II ZR 297/86 = NJW-RR 1987, 1151; BGH, Urteil vom 7. Juni 1990 - III ZR 216/89 = NJW 1990, 2125).
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2. a) Das Berufungsgericht ist der Ansicht, die im Empfangsbekenntnis enthaltene Erklärung, die Urteilszustellung sei am 14. Februar 1990 bewirkt worden, sei nicht widerlegt. Zwar sei nach den vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen davon auszugehen, daß Rechtsanwalt H. das Empfangsbekenntnis erst am 15. Februar 1990 unterschrieben habe, da er am Vortag die Kanzlei zu keiner Zeit aufgesucht habe. Dennoch habe er sich bereits am 14. Februar 1990 "in der für die Zustellung notwendigen Weise persönlich mit dem Schriftstück befaßt". Denn die erstinstanzlichen Bevollmächtigten der Beklagten hätten ihre Kanzlei in der Weise organisiert, daß eine Angestellte bei Posteingang die Fristsachen aussortiere, mit einem Eingangsstempel versehe, in den Fristenkalender eintrage und die Schriftstücke zu den Handakten gebe. In dieser Verfahrensweise komme der Wille der Prozeßbevollmächtigten zum Ausdruck, daß sie alle Schriftstücke mit Posteingang in ihrer Kanzlei behalten und als zugestellt ansehen wollten.
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b) Eine solche Auffassung wird indessen den Zustellungserfordernissen des § 212a ZPO nicht gerecht. Anders als die Zustellung durch einen Gerichtswachtmeister oder durch die Post (§ 211 ZPO) setzt eine Zustellung nach dieser Vorschrift die persönliche Beteiligung des Rechtsanwalts voraus (BGH, Beschluß vom 15. Juni 1978 - III ZB 8/78 = VersR 1978, 943; BGH, Urteil vom 6. November 1984 - VI ZR 2/83 = VersR 1985, 142, 143; BGH, Beschluß vom 13. Juli 1989 - VII ZB 5/89 = VersR 1989, 1211). Das bedeutet, daß der Rechtsanwalt zunächst von dem Zugang des zuzustellenden Schriftstücks Kenntnis erlangen muß (vgl. BGHZ 30, 335, 336f.; BGH, Beschluß vom 29. Mai 1974 - IV ZB 6/74 = VersR 1974, 1001, 1002; BGH, Urteil vom 31. Mai 1979 - VII ZR 290/78 = NJW 1979, 2566f.; BayObLG Rpfl. 1982, 385), bevor er konkret entscheidet, ob er es als zugestellt ansieht. Die Entgegennahme des Schriftstücks und seine - allgemeinen Anweisungen entsprechende - Bearbeitung durch das Kanzleipersonal haben in diesem Zusammenhang nicht mehr als vorbereitenden Charakter (vgl. BGH, Urteil vom 31. Mai 1979 - VII ZR 290/78 = NJW 1979, 2566f.; BGH, Beschluß vom 7. Mai 1984 - II ZB 1/84 = VersR 1984, 663; BGH, Urteil vom 25. Mai 1987 - II ZR 297/86 = NJW-RR 1987, 1151, 1152). Damit wird nur der anwaltliche Gewahrsam begründet, aber nicht die weitergehende einzelfallabhängige Willensentschließung des Rechtsanwalts vorweggenommen, das in seinen Gewahrsam gelangte Schriftstück auch tatsächlich als zugestellt zu behandeln. Hiernach ist unerheblich, wann das zuzustellende Urteil in die Kanzlei der erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten der Beklagten gelangt ist.
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Da die Zustellungsvoraussetzungen nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen erst am 15. Februar 1990 erfüllt wurden, ist die am 15. März 1990 eingelegte Berufung rechtzeitig.
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