Revisionsgerichtliche Überprüfung der Beweiswürdigung des Berufungsgerichts
Orientierungssatz
1. Besteht ein offenkundiger Widerspruch zwischen den Aussagen eines Zeugen in erster und in zweiter Instanz, ist es fehlerhaft, wenn das Berufungsgericht diesen Widerspruch nicht erörtert, sondern allein auf einen - wie auch immer gewonnenen - persönlichen Eindruck von dem Zeugen (für seine Glaubwürdigkeit) abstellt. Auf diese Weise kann der offenkundig bestehende Widerspruch nicht aus der Welt geschafft werden.
2. Einen Verstoß gegen ZPO § 286 stellt es auch dar, wenn sich das Berufungsgericht nicht mit der Tatsache auseinandersetzt, daß für den Sachvortrag einer beweisbelasteten Partei eine innere Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist.

vorgehend LG Kiel, 18. April 1989, 2 O 308/88
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 14. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 1. Oktober 1993 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an den 9. Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Klägerin ist Erbin des am 16. August 1988 verstorbenen M. B.; sie begehrt Rückzahlung der von diesem an den Beklagten im Jahre 1986 gewährten Darlehen über insgesamt 345.244 DM, die noch in Höhe von 319.244 DM offen sind.
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Ein Darlehen über 15.244 DM nebst 7% Zinsen, über das der Beklagte ein Schuldanerkenntnis erteilte, war für die Begleichung von Prozeßkostenverpflichtungen bestimmt. Ein weiteres Darlehen über 330.000 DM (zu verzinsen mit 6%) sollte vereinbarungsgemäß für den Ankauf eines Hausgrundstücks durch den Beklagten verwendet und mit einer erst- erstrangigen Grundschuld über 330.000 DM besichert werden. Als der Beklagte mit diesen Darlehensmitteln statt dessen einen Grundstückserwerb für seine Lebensgefährtin finanzierte, kündigte B. das Darlehen, auf das der Beklagte inzwischen 26.000 DM zurückgezahlt hatte, zum 30. April 1987 und mahnte gleichzeitig die Rückführung des Darlehens über 15.244 DM an.
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Als der Beklagte keine weiteren Zahlungen leistete, erteilte B. am 3. August 1988 Auftrag zur Klage, die am 16. August 1988 verfaßt wurde und am 18. August bei Gericht einging.
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Der Beklagte wendet sich gegen das Zahlungsbegehren mit der Behauptung, B. habe ihm die noch offene Schuld in einem auf den 17. November 1987 datierten, aber erst in der zweiten Januarhälfte 1988 abgeschlossenen schriftlichen Vertrag erlassen.
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Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihren Zahlungsanspruch weiter.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache (§ 565 Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO).
I.
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Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Rückzahlung der Darlehen, weil sich der Beklagte auf die Urkunde mit Datum vom 17. November 1987 berufen könne. Nach dem Schriftsachverständigengutachten sei die Unterschrift M. B. auf dieser Urkunde zwar wahrscheinlich gefälscht. Damit stehe jedoch nicht fest, daß eine Fälschung wirklich vorliege. Den Beweis der Echtheit habe der Beklagte aber durch die eidliche Aussage des Zeugen F. geführt. Der Zeuge habe bekundet, daß B. "eine" Urkunde unterschrieben und an den Beklagten ausgehändigt habe; er, der Zeuge, habe dann "die" Urkunde, deren Inhalt er als Schenkung von ca. 300.000 DM aufgefaßt habe, im Auto gelesen. Bei dieser Aussage sei das große Detailwissen aufgefallen, das teilweise deutlich über das erstinstanzliche Erinnerungsvermögen des Zeugen hinausgegangen sei und in manchen Punkten Abweichungen aufweise; das sei darauf zurückzuführen, daß die erstinstanzliche Vernehmung zu einer Festigung des Gedächtnisses und zu einem Nachbesinnen mit zusätzlicher Gedächtnisleistung und Fixierung geführt habe, was auch erkläre, daß die zweitinstanzliche Aussage wegen der seit der erstinstanzlichen Aussage verstrichenen Zeit in einzelnen Punkten von dieser abweiche.
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Das Berufungsgericht hält es allerdings für möglich, daß der Zeuge vor seiner Vernehmung Gespräche über den Verlauf des damaligen Geschehens geführt habe, wenn er das auch bestreite; insoweit bestünden an seiner wahrheitsgemäßen Aussage Zweifel, die aber nicht ausreichten, dem Zeugen eine auf freier Erfindung beruhende Darstellung zu unterstellen.
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Die Widersprüche zwischen den beiden Aussagen des Zeugen seien nur marginaler Natur. Entscheidend sei der vom Zeugen gewonnene persönliche Eindruck: Der Zeuge hätte sich mit großer Wahrscheinlichkeit an irgendeiner Stelle verraten, wenn er vor Gericht Lügengeschichten aufgetischt hätte. Der Senat glaube nicht, daß der Zeuge, auch wenn ihm dafür eine Belohnung versprochen worden wäre, für den Beklagten eine Falschaussage und einen Falscheid sowie eine Beihilfe zum Prozeßbetrug begangen hätte. Es bestünden schon Bedenken, ob er zu einer solchen kriminellen Energie fähig wäre. Zum anderen wäre er schlau genug gewesen zu erkennen, welch großes Risiko er eingegangen wäre, entdeckt zu werden. Ein solches Risiko laufe üblicherweise nur, wer sich für eine solche Tat bezahlen lasse; der Beklagte aber lebe in schlechten finanziellen Verhältnissen. Der Senat könne somit nicht von einer "bewußten, mit dem Beklagten abgesprochenen Falschaussage des Zeugen ausgehen". Deswegen und weil Widersprüche im Vortrag des Beklagten selbst nicht gegen den Zeugen sprechen könnten, müsse die Echtheit der Unterschrift angenommen werden.
II.
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Diese Ausführungen halten der Nachprüfung in keinem Punkt stand. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Beklagte habe die Echtheit der Unterschrift auf dem Erlaßvertrag bewiesen, beruht auf mehrfacher Verletzung des § 286 Abs. 1 ZPO.
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Das Berufungsgericht scheint zwar zunächst davon auszugehen, daß der Beklagte für seine Behauptung, B. habe ihm die Schuld erlassen, und damit für die Echtheit der Unterschrift auf der Erlaßvertragsurkunde beweispflichtig ist; es hat aber die Bedeutung der damit für den Beklagten bestehenden Beweisführungspflicht nicht erfaßt und letztlich den Inhalt der Beweislast verkannt.
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a) Nach dem eingeholten Schriftsachverständigengutachten ist die Unterschrift des M. B. auf der vorgelegten Urkunde wahrscheinlich gefälscht. Das bedeutet keineswegs - wie das Berufungsgericht offenbar meint - nur, daß der Sachverständigenbeweis der Echtheit nicht gelungen ist, also ein einfaches non liquet vorliegt; das Ergebnis spricht vielmehr gegen die Behauptung der Echtheit und besagt, daß der Vortrag des Beklagten wahrscheinlich falsch ist. Wenn der Sachverständige auch keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit für die Fälschung feststellen kann, so heißt das angesichts der dem Beklagten obliegenden Beweislast nicht, daß dieses Gutachten mit Hilfe einer - vom Berufungsgericht selbst in wesentlichen Teilen in Zweifel gezogenen - 043genaussage beiseite geschoben werden und bei einer Gesamtwürdigung unberücksichtigt bleiben kann.
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b) Ohne sich mit der Glaubhaftigkeit der Aussage zu befassen, hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die Aussage des Zeugen F. zugrunde gelegt, weil es diesen für glaubwürdig hält.
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Das Berufungsgericht erörtert die Zweifel an der Aussage, setzt sich gleichwohl nicht damit auseinander, ob sich aus diesen Zweifeln und aus dem "auffallenden" Prozeßverhalten des Beklagten bei Einführung des angeblichen Erlaßvertrages durchgreifende Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage ergeben. Soweit es ausführt, es könne nicht "von einer bewußten, mit dem Beklagten abgesprochenen Falschaussage des Zeugen" ausgehen und deshalb keine Schlüsse aus dem Verhalten des M. B., der kurz nach den streitigen Ereignissen den Auftrag zur Klage erteilt hatte, sowie aus dem Prozeßverhalten des Beklagten herleiten, liegt auch darin eine Verkennung der Beweissituation. Es geht nicht darum, einen Meineid des Zeugen F. festzustellen. Der Beklagte hat seiner Beweislast auch dann nicht genügt, wenn der Zeuge unvorsätzlich die Unwahrheit gesagt hat und ihm diese vom Beklagten als Wahrheit suggeriert worden ist.
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Der Beklagte hatte in seiner Erwiderung auf die noch von B. selbst erhobene Klage von einem Erlaß der eingeklagten Forderung nichts erwähnt. Erst nach dem ersten Verhandlungstermin und damit auch nach dem Tode B.'s ließ er diese Darstellung einführen. Das neue Vorbringen erklärte er damit, daß er die - nach seinem Vorbringen rund acht Monate zuvor erstellte - Urkunde erst nach dem Verhandlungstermin aufgefunden habe. Von der Klägerin auf diese Unstimmigkeit hingewiesen, bezeichnete er in der Folge die Darstellung über das "Auffinden" als "so nicht richtig" und gab wechselnde einander widersprechende Erklärungen über die Unterrichtung seines Prozeßbevollmächtigten von der Urkunde. Dieser Teil der Prozeßgeschichte war für die Frage, ob das Dokument nach dem Tode des M. B. hergestellt war, von wesentlicher Bedeutung und durfte deshalb bei der Würdigung der Aussage des Zeugen F. nicht unerörtert bleiben.
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c) Das Berufungsgericht hat sich mit dem unter Beweis gestellten Vortrag der Klägerin nicht befaßt, daß der Zeuge F. für den Beklagten gleichsam bei Bedarf als Zeuge zur Verfügung steht.
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Der Beklagte hat sich in den vom Berufungsgericht beigezogenen Akten ...... OLG O. auf das Zeugnis des Zeugen F. berufen, der ein Telefongespräch kurz vor Ostern 1984 mitgehört haben sollte. In diesem Zusammenhang hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 8. September 1988 vorgetragen, er habe zu diesem Zeugen seit dem Jahre 1985 keinen Kontakt mehr. Zu dieser Behauptung steht in einem nicht zu erklärenden Widerspruch, daß der Beklagte zusammen mit dem Zeugen im Februar 1988 den Besuch bei B. gemacht und dort die umstrittene Unterschrift geholt haben will.
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Auch diese Umstände, die in gravierender Weise gegen die Richtigkeit des Vortrags des Beklagten sprechen, hat das Berufungsgericht übergangen.
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d) In einem weiteren Punkt ist die Beweiswürdigung unvollständig, weil das Berufungsgericht ein wesentliches Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zur Kenntnis genommen hat.
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Der Zeuge F. hat bekundet, daß B. vor Unterschriftsleistung ein "gefaltetes Blatt" holte, das - also nach Auseinanderfalten - unterschrieben worden sei. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten festgestellt, daß die Querfaltung des Blattes durch die zu begutachtende Unterschrift verläuft und diese Faltung nach Unterschriftsleistung vorgenommen worden ist.
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Damit hat sich das Berufungsgericht nicht auseinandergesetzt und diesen bei der Zeugenvernehmung auftretenden offensichtlichen Widerspruch auch nicht durch Befragen des Zeugen aufzuklären versucht.
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e) Das Berufungsgericht hat darüber hinaus Widersprüche in den Aussagen des Zeugen F. z.T. übergangen, z.T. zu Unrecht bagatellisiert und dabei nicht dargelegt, aus welchen auf Tatsachen zurückzuführenden Gründen es diese Widersprüche für unbeachtlich hält.
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So hat der Zeuge erstinstanzlich bekundet, er könne unmöglich heute noch sagen, ob der hier vorliegende Zettel (das ist der angebliche Erlaßvertrag) derjenige gewesen sei, den B. seinerzeit unterschrieben und den er, der Zeuge, in Händen gehabt habe. In der Berufungsinstanz war sich der Zeuge sicher, daß er seinerzeit den Zettel gelesen habe, den B. unterschrieben habe: "Ich erkenne diese Urkunde heute wieder."
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Diesen Widerspruch im Kernbereich der Aussage erörtert das Berufungsgericht nicht, obwohl seit der ersten Vernehmung 4 1/2 Jahre und seit den geschilderten Ereignissen 5 1/2 Jahre verflossen waren.
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Erstinstanzlich hat der Zeuge bekundet, der Beklagte habe den Zettel in seiner Gegenwart nicht unterschrieben, das wäre ihm sonst aufgefallen. In der Berufungsinstanz meinte er, daß nicht nur B., sondern auch der Beklagte unterschrieben habe und beide ein Schreibgerät in der Hand hatten.
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Daraus meint das Berufungsgericht nichts herleiten zu können, weil für eine "Nachbesserung" mangels negativer Schlußfolgerungen des Landgerichts kein Anlaß bestanden hätte. Damit wird der offenkundige Widerspruch zwischen beiden Aussagen in bezug auf den entscheidenden Skripturakt nicht erörtert, geschweige denn erklärt.
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Vor dem Landgericht hat der Zeuge ausgesagt, er habe nicht gewußt, "worum es eigentlich ging", als über den Zettel gesprochen und dieser unterzeichnet worden sei. Nach der Aussage in der Berufungsinstanz soll B. sich dahin geäußert haben, daß die 300.000 DM nun nicht mehr zurückgezahlt werden müßten, worauf der Beklagte sich bedankt habe. - Auf die Diskrepanz hingewiesen erklärte der Zeuge, daß er, wenn er richtig gefragt werde, richtig antworte, und er von der Sache heute mehr wisse als vorher.
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Das Berufungsgericht hält das für bedenklich und erkennt, daß diese Aussage "in gewisser Weise" für eine Absprache mit dem Beklagten spreche; es meint dann unter Übergehen dieser Bedenken schlicht, daß der vom Zeugen gewonnene persönliche Eindruck entscheidend sei. Der aufgezeigte Widerspruch kann indessen nicht mit einem wie auch immer gewonnenen persönlichen Eindruck aus der Welt geschafft werden.
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f) Das Berufungsgericht setzt sich auch nicht damit auseinander, daß dem Vortrag des Beklagten jede innere Wahrscheinlichkeit fehlt. Es gibt keine plausible Erklärung für eine erlaßweise Schenkung von über 300.000 DM an einen Schuldner, der mit den zur Verfügung gestellten Mitteln abredewidrig ein Haus für seine Lebensgefährtin finanziert und die vereinbarte Sicherungsgrundschuld nicht bestellt hatte. Unklar bleibt insbesondere, wie es zu der Unterschrift B.'s unter eine bereits vorbereitete Urkunde von so weittragendem Inhalt gekommen sein soll; das Berufungsgericht setzt sich mit der naheliegenden Frage, ob eine solche Unterschrift ohne Vorgespräche und mehr oder weniger gründliche Überlegung geleistet zu werden pflegt, auch nicht ansatzweise auseinander. Ebensowenig wird erörtert, was B. wenige Monate nach einem derart großzügigen - urkundlich belegten - Forderungserlaß bewogen haben könnte, eben diese Forderung einzuklagen.
III.
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Das angefochtene Urteil war wegen dieser Mängel aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Der Senat hat von der Möglichkeit nach § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
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Das Berufungsgericht wird bei der erneuten Entscheidung auch den von der Klägerin in der Revisionsverhandlung erörterten Gesichtspunkt zu prüfen haben, ob nach dem Inhalt der vorgelegten Urkunde ein angeblicher Erlaß bereits zu Lebzeiten des M. B. wirksam geworden ist, die zugrunde liegende Schenkung also mit der Folge aus § 518 Abs. 2 BGB bereits vollzogen war.
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