Anwaltsverschulden bei Versäumung der Berufungsfrist: Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts bei Erteilung eines Rechtsmittelauftrages
Orientierungssatz
1. Grundsätzlich beschränkt sich die Sorgfaltspflicht eines (erstinstanzlichen) Prozeßbevollmächtigten bei der Erteilung eines Rechtsmittelauftrages nicht auf die rechtzeitige Absendung des Auftragsschreibens. Der Absender muß sich vielmehr - gegebenenfalls durch Rückfrage - vergewissern, ob der beauftragte Rechtsanwalt den Auftrag innerhalb der Rechtsmittelfrist übernimmt, weil der Auftraggeber im Fall der Ablehnung des Mandats durch den zunächst in Aussicht genommenen Rechtsanwalt in der Lage sein muß, den Rechtsmittelauftrag noch rechtzeitig einem anderen Rechtsanwalt zu erteilen, um die Durchführung des Rechtsmittels zu gewährleisten.
2. Etwas anderes gilt aber dann, wenn mit dem Rechtsmittelanwalt im Einzelfall oder allgemein abgesprochen ist, daß dieser Rechtsmittelaufträge annehmen, prüfen und ausführen werde. In diesem Fall kann sich der Absender eines Schreibens zur Rechtsmittelbeauftragung grundsätzlich darauf verlassen, daß der Auftrag den Prozeßbevollmächtigten für die Rechtsmittelinstanz rechtzeitig erreicht und dieser den Auftrag ausführt. Verzögerungen des Postverkehrs braucht sich der Absender des Auftragsschreibens jedenfalls nicht zurechnen zu lassen (Anschluß BGH, 1994-09-19, II ZB 7/94, NJW 1994, 3101).

vorgehend LG München II, 18. Januar 1995, 13 O 6020/94
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluß des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 26. Juli 1995 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 280.227,67 DM
Gründe
I.
- 1
Die Klägerin macht gegen die Beklagten eine restliche Darlehensforderung in Höhe von 280.227,67 DM nebst Zinsen geltend. Das Landgericht hat die Beklagten zur Zahlung verurteilt. Das Urteil ist den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten am 27. Januar 1995 zugestellt worden. Mit einem am 13. März 1995 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz legten die Beklagten Berufung ein. Zugleich beantragten sie, ihnen hinsichtlich der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zur Begründung haben die Beklagten vorgetragen: Sie hätten die Rechtsanwälte B. und Kollegen in dem vorliegenden Rechtsstreit als Verkehrsanwälte und die Rechtsanwälte Prof. Dr. S. und Kollegen mit der prozessualen Vertretung beauftragt. Die Prozeßbevollmächtigten der Beklagten hätten die Verkehrsanwälte mit Schreiben vom 30. Januar 1995 von der Zustellung des landgerichtlichen Urteils am 27. Januar 1995 unterrichtet. Mit Schreiben vom 22. Februar 1995 hätten die Verkehrsanwälte die Prozeßbevollmächtigten beauftragt, fristwahrend Berufung gegen das landgerichtliche Urteil einzulegen. Dieses Schreiben sei am 22. Februar 1995 zur Post gebracht worden. Die Beklagten sind der Ansicht, daß das Schreiben bei normaler Postbeförderung spätestens am 24. Februar 1995 den Prozeßbevollmächtigten hätte zugehen müssen, so daß diese noch rechtzeitig vor Ablauf der Berufungsfrist am 27. Februar 1995 hätten Berufung einlegen können. Das Schreiben des Verkehrsanwalts vom 22. Februar 1995 sei jedoch erst nach Ablauf der Berufungsfrist am 3. März 1995 bei den Prozeßbevollmächtigten eingegangen.
- 2
Durch Beschluß vom 26. Juli 1995, der den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten am 3. August 1995 zugestellt wurde, hat das Oberlandesgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufungen der Beklagten als unzulässig verworfen. Das Oberlandesgericht gelangt zu dem Ergebnis, daß sich die Beklagten nach ihrem glaubhaft gemachten Vorbringen ein Verschulden ihres Verkehrsanwalts zurechnen lassen müßten. Der Verkehrsanwalt habe die Bestätigung des rechtzeitigen Einganges des Schreibens vom 22. Februar 1995, mit dem der Auftrag zur Berufungseinlegung erteilt wurde, überwachen müssen. Bleibe die Auftragsbestätigung aus, sei vor Fristablauf eine Rückfrage und gegebenenfalls ein Hinweis auf den drohenden Fristablauf erforderlich.
- 3
Dagegen richtet sich die am 10. August 1995 bei Gericht eingegangene sofortige Beschwerde der Beklagten. Sie sind der Ansicht, daß der Verkehrsanwalt der Beklagten im vorliegenden Fall nicht verpflichtet war, den rechtzeitigen Eingang des Schreibens vom 22. Februar 1995 bei den Prozeßbevollmächtigten zu überwachen und sich bestätigen zu lassen.
II.
- 4
Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 238 Abs. 2, 519 b Abs. 2, 577 Abs. 2 ZPO) und begründet.
- 5
Das Oberlandesgericht geht zutreffend davon aus, daß sich die Sorgfaltspflicht eines Rechtsanwalts bei der Erteilung eines Rechtsmittelauftrages nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht auf die rechtzeitige Absendung des Auftragsschreibens beschränkt. Der Absender muß sich vielmehr grundsätzlich - gegebenenfalls durch Rückfrage - vergewissern, ob der beauftragte Rechtsanwalt den Auftrag innerhalb der Rechtsmittelfrist übernimmt, weil der Auftraggeber im Fall der Ablehnung des Mandats durch den zunächst in Aussicht genommenen Rechtsanwalt in der Lage sein muß, den Rechtsmittelauftrag noch rechtzeitig einem anderen Rechtsanwalt zu erteilen, um die Durchführung des Rechtsmittels zu gewährleisten. Etwas anderes gilt aber dann, wenn mit dem Rechtsmittelanwalt im Einzelfall oder allgemein abgesprochen ist, daß dieser Rechtsmittelaufträge annehmen, prüfen und ausführen werde. In diesem Fall kann sich der Absender eines Schreibens zur Rechtsmittelbeauftragung grundsätzlich darauf verlassen, daß der Auftrag den Prozeßbevollmächtigten für die Rechtsmittelinstanz rechtzeitig erreicht und dieser den Auftrag ausführt. Verzögerungen des Postverkehrs braucht sich der Absender des Auftragsschreibens jedenfalls nicht zurechnen zu lassen (vgl. BGHZ 105, 116, 117 = NJW 1988, 3020; BGH, Beschluß vom 20. Juni 1991 - VII ZB 18/90 = NJW 1991, 3035; Beschluß vom 13. Oktober 1992 - VI ZB 21/92 = VersR 1993, 770; Beschluß vom 19. September 1994 - II ZB 7/94 = NJW 1994, 3101, 3102).
- 6
So liegt der Fall hier. Die Beklagten haben vorgetragen, daß ihr Verkehrsanwalt das Auftragsschreiben rechtzeitig am 22. Februar 1995 zur Post gegeben hat. Die Prozeßbevollmächtigten, die die Beklagten bereits in der ersten Instanz vertraten, hatten in ihrem Schreiben vom 30. Januar 1995, mit dem sie dem Verkehrsanwalt das erstinstanzliche Urteil übersandten, um Mitteilung bis 24. Februar 1995 gebeten, ob Berufung eingelegt werden solle, ohne entsprechende Mitteilung würden sie keine Berufung einlegen. Die Prozeßbevollmächtigten hatten damit bereits ihre Bereitschaft erkennen lassen, das Berufungsverfahren durchzuführen, falls ein entsprechender Auftrag erteilt wird. Die Gefahr einer Mandatsablehnung bestand demnach nicht. Einer Bestätigung der Mandatsübernahme bedurfte es unter diesen Umständen nicht. Da sich die Beklagten die bei der Briefbeförderung eingetretene Verzögerung nicht zurechnen lassen müssen und auch andere Umstände nicht ersichtlich sind, die dem Verkehrsanwalt die Befürchtung hätten aufdrängen müssen, daß sein Auftrag nicht ausgeführt wird, entfiel bei dieser Sachlage die Pflicht, die Berufungsfrist weiter zu überwachen.
- 7
Das Oberlandesgericht durfte deshalb mit der gegebenen Begründung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht verweigern. Der Senat kann eine positive Entscheidung nicht selbst treffen, weil ihm die rechtzeitige Absendung des Auftragsschreibens vom 22. Februar 1995 bisher nicht hinreichend glaubhaft gemacht erscheint. Eine eidesstattliche Versicherung der Ehefrau des Verkehrsanwalts, die den Brief eingeworfen haben soll, liegt bisher nicht vor. Der Brief ist im übrigen nach dem Beschwerdevorbringen bei den beauftragten Anwälten am 3. März 1995 eingetroffen, nachdem man in einem Telefongespräch am Vortag festgestellt hatte, daß die Berufungsfrist inzwischen verstrichen war. Da unter diesen Umständen dem Poststempel als Beweismittel für eine rechtzeitige Absendung offensichtlich besondere Bedeutung zukam, hätte es nahegelegen, den Briefumschlag aufzubewahren und mit dem Wiedereinsetzungsgesuch vorzulegen. Um den Beklagten Gelegenheit zur weiteren Glaubhaftmachung zu geben, war die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses gemäß § 575 ZPO an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (BGH, Beschluß vom 22. Oktober 1986 - VIII ZB 40/86, BGHR ZPO § 233 Verschulden (allgemeines) 1).
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